Die Titanic der Adria: Vor hundert Jahren, am 13. August 1914, sank der k. k. Passagierdampfer "Baron Gautsch". Ein geretteter Arzt aus Graz hat ein Tagebuch geführt, das nun erstmals veröffentlicht wurde.
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Der Kapitän und die Mannschaft verließen als Erste das sinkende Schiff. Der Dampfer war zu nahe an der Küste mitten in die Katastrophe navigiert worden. Weder der Kapitän noch der Erste Offizier hatten sich auf der Kommandobrücke aufgehalten. So wurden alle Warnungen ob des halsbrecherischen Kurses ignoriert. Als dann das Unglück eintrat, überließen sie die 240 Passagiere ihrem Schicksal und suchten nur die eigene Haut zu retten.
Nein, nicht vom rücksichtslosen Verhalten unverantwortlicher Schiffsführer in jüngster Vergangenheit wird hier berichtet. Vor hundert Jahren, am 13. August 1914, sank in der Adria der k. k. Passagierdampfer "Baron Gautsch", und schon damals war die Schiffsmannschaft als Erste im Rettungsboot. Durch die Nachlässigkeit der Schiffsführung war der 84 Meter lange und 12 Meter breite Luxusdampfer in ein von der österreichisch-ungarischen Kriegsmarine gelegtes Minenfeld gelaufen und - zwei Jahre nach dem Untergang der Titanic - innerhalb von sieben Minuten gesunken. 147 Menschen kamen ums Leben.
In zwei Schulheften
Das alles wäre längst mitsamt dem Schiff in den Adriafluten des Vergessens versunken, wäre nicht gerade jetzt, hundert Jahre nach der Katastrophe, das ebenso aufschlussreiche wie erschütternde Dokument aus der Feder eines Geretteten erstmals publiziert worden. Der Grazer Arzt und Universitätsprofessor Hermann Pfeiffer hatte Mitte September 1914, vier Wochen nach dem schrecklichen Ereignis, seine Wahrnehmungen und Erlebnisse in zwei Schulheften zu Papier gebracht - für seinen gleichfalls geretteten dreijährigen Sohn Ernst, falls der Vater aus dem soeben begonnenen Weltkrieg nicht zurückkehren würde.
Die Niederschrift sollte dem Söhnchen später Aufschluss darüber geben, wie seine Mutter Grete ums Leben kam. Noch hundert Jahre später liest sich die dramatische Schilderung dank der Wortgewalt des Berichterstatters mit erdrückender Spannung.
Der 37-jährige Pathologe Hermann Pfeiffer hatte mit seiner jungen Familie wie schon im Vorjahr den Sommerurlaub auf der damals österreichischen Insel Lussin (heute Losinj) an der dalmatinischen Küste angetreten, als sich die unbeschwerte Ferienstimmung durch den Kriegsausbruch am 28. Juli 1914 jäh verdüsterte. In leuchtenden Farben ruft sich der Berichterstatter diese Vorkriegs-Ferienidylle in Erinnerung, um den Absturz in die von ihm trotz allem begrüßte Kriegswirklichkeit umso krasser wirken zu lassen.
Am 8. August traf die Nachricht ein, dass England vier Tage zuvor Deutschland den Krieg erklärt hatte. Alles drängte nun zur Heimreise. Am 13. August nahm das Linienschiff "Baron Gautsch" der renommierten Reederei "Österreichischer Lloyd" von Losinj aus Kurs auf Triest, von wo die Pfeiffers mit der Bahn nach Graz zurückkehren wollten. Bei klarer See geht es an der Südspitze von Istrien entlang in Richtung des k. k. Kriegshafens Pola (heute Pula).
Doch vor der Insel Brioni nimmt der Grazer Arzt mit Besorgnis wahr, dass der Dampfer ungewöhnlich nahe am Ufer fährt: "Laufen wir hier keine Gefahr in ein Minenfeld zu geraten, welches unzweifelhaft um Pola herum gelegt sein konnte?", geht ihm durch den Kopf. "Ist unser Kurs nicht unvorsichtig gewählt?"
Seine Bedenken vermag Pfeiffer nur kurz zu verscheuchen, denn knapp nach halb drei Uhr nachmittags tritt die Katastrophe ein. "Ein Donnerschlag, der durch den mächtigen Schiffskörper fährt", beschreibt er später die Explosion, "ein übermächtiger Stoß, ein Klirren und Prasseln, Schreien, Heulen, Kreischen, Hasten, Toben, Splittern von Holz und Eisenteilen, die von oben her durch die Luft fliegen, ein Regen von Glasscherben, der sich auf uns ergießt." Die Seemine, die von der eigenen k. k. Kriegsmarine gelegt wurde, hat ein Loch in den Rumpf der "Baron Gautsch" gerissen. Rasch neigt sich das Schiff.
Die Pfeiffers sind an Deck, als es zur Explosion kommt. Das Kind schläft in der Kabine. Was tun? "Das Kind!" rufen sie "beide mit einem Athem fast" und "fliegen über die Stiegen hinab zur Kabine 24, die unser Alles barg." Vor der Nachbarkabine müssen sie mit ansehen, wie ein verzweifelter Vater erfolglos versucht, die fest verschlossene Tür zur Kajüte seiner Kinder aufzubrechen. "Ich habe den Mann nicht wiedergesehen. Es wird ihn wohl dort der Tod ereilt haben, ihn und seine beiden Kinder!"
Den Pfeiffers gelingt es, ihren Buben "durch eine rasend gewordene, gänzlich kopflos sich balgende, sich niedertretende Menge zum Promenadedeck hinauf zu tragen". Oben angelangt, können sie gerade noch an Rettungsgürtel gelangen, dann "legte sich der Dampfer so rasch zur Seite, dass ich an der Reling mich nicht mehr halten konnte und über die glatten Planken gegen die Wand des Rauchsalons glitt, wo neben mir Grete lehnte."
Schuh als Rettung
Die Mutter vermag ihr Kind noch einmal zu küssen. "Ich hab dich so sehr lieb", ruft Pfeiffer seiner Frau zu, und "Ich hab dich---", erwidert sie, aber: "Sie konnte nicht vollenden! Ein jäher, gellender, ohrenzerreißender Schrei zerreißt auf einmal die Luft. Ein Grauen, eine Verzweiflung liegt in ihm, wie ich’s noch nie gehört. Ich werde ihn nie aus den Ohren und aus dem Herzen kriegen. . . Ich sehe über der senkrechten Verdeck-Mauer weißen Gischt und Schaum dringen und sehe, fühle, höre von allen Seiten die Flut auf uns niederstürzen. Es wird Nacht um mich!"
Die Wassermassen schleudern Vater und Sohn gegen die Wände des Promenadendecks. Der glitschige Körper des Buben droht zu entgleiten, doch der eine Kinderschuh, den Grete Pfeiffer ihrem Sohn in der Kabine noch anziehen konnte, gibt dem Klammergriff des Vaters Halt. "Deiner Mutter letzter Liebesdienst hat Dir so das Leben gerettet", schreibt er später dem Kind ins Stammbuch. Im Gegensatz zur Mutter, die von den Wassermassen verschlungen wird, gelangen Hermann Pfeiffer und sein Sohn an die Wasseroberfläche. Dort umgibt sie "ein entsetzliches Ringen und Balgen, wahnsinniges Schreien, Fluchen, Beten, Röcheln Ertrinkender, Sterbender - vom Dampfer keine Spur mehr. Fern ein gekentertes Boot! Mehr sehe ich nicht."
Als sich aus der Tiefe vier Hände an seine Fußknöchel klammern und ihn mit dem Kind erneut tief unter Wasser ziehen, tritt der Vater in Todesnot so lange nach unten, "bis es ruhig wurde unter mir. Ich habe bewusst zwei Menschen getötet, um unseres, Deines zu erhalten", bekennt Pfeiffer und vermerkt voll Skrupel: "Heute noch rinnt’s mir bei dem Gedanken eiskalt über den Rücken und wenn ich vor dem Spiegel stehe, überkommt mich ein Grauen darüber, dass ich es tun musste!"
Völlig am Ende seiner Kräfte, vermag sich der ums Überleben für Zwei Kämpfende an einem Ruder festzuhalten, das im ölverseuchten Wasser treibt. Ein heillos überfülltes Rettungsboot verweigert ihm und dem Kind die Aufnahme, erst ein zweites bringt die beiden in Sicherheit.
"Wo ist die Mami?", lautete die erste Frage des Buben. Dem bedrückten Vater, Professor für Gerichtsmedizin, blieb der Gang in die Leichenhalle nicht erspart. Nach langem Suchen vermochte er die sterblichen Überreste seiner Frau zu identifizieren. Am Eingang der Halle lagen, noch ungeordnet, die ertrunkenen Kinder. Von den unmündigen Passagieren der "Baron Gautsch" hatte einzig der kleine Ernst überlebt.
Der Untergang der "Baron Gautsch" kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs wirkt im Rückblick wie ein düsteres Omen der kommenden Niederlage der Habsburgermonarchie. Dass ein österreichisches Passagierschiff aus pflichtvergessenem Leichtsinn der Besatzung Opfer der eigenen militärischen Verteidigungsstrategie werden konnte - diese schmachvolle Tatsache durfte unter der Kontrolle der Zensur im Krieg vorerst nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Also erfand man vorübergehend die Fama von einer serbischen "Höllenmaschine", die das Schiff angeblich in die Luft fliegen ließ. Doch die Überlebenden ließen aus Empörung über das Fehlverhalten der Mannschaft nicht locker. So ging Hermann Pfeiffer, wie er berichtet, in Graz persönlich zum Chefredakteur einer Zeitung, um eine Richtigstellung zu erwirken. Ihm wurde nur die eingeschränkte publizistische Freiheit bestätigt.
Geheimer Prozess
Der Kapitän der "Baron Gautsch", Paul Winter, und sein Erster Offizier, Josef Luppis, wurden vor ein See-Gericht gestellt. Winter hatte in seiner Kabine geschlafen, Luppis war vorschriftswidrig von der Kommandobrücke abgetreten, um sich zum Mittagessen zu begeben.
Sowohl der Prozessverlauf wie das Urteil blieben wegen der Kriegszensur geheim. 1920 indes waren die beiden schon wieder im Marineeinsatz: als Kommandanten von Transatlantiklinern des Lloyd Adriatico. Die Hinterbliebenen klagten vergebens auf Entschädigung. Teils fielen die Akten in Wien dem Justizpalastbrand 1927 zum Opfer, teils wurden sie in der Reichspogromnacht 1938 bei der Plünderung der Kanzlei des beauftragten jüdischen Anwalts vom Mob zerstört.
Hermann Pfeiffer, der in Graz zweimal Dekan der medizinischen Fakultät war, starb bereits 1929, erst 52-jährig. Auch das Leben seines Sohnes Ernst blieb von den traumatischen Ereignissen 1914 überschattet. Das berichtet seine Tochter Ingrid Pfeiffer im Vorwort des Bandes, mit dem sie nun das private Tagebuch ihres Großvaters zugänglich gemacht hat.
Oliver vom Hove, geboren in Großbritannien, aufgewachsen in der Schweiz und in Tirol. Lebt als Dramaturg, Literaturwissenschafter und Publizist in Wien.
Hermann Pfeiffer: "Halte dich dicht an mich und eile!". Der Untergang der Baron Gautsch. Hg. v. Ingrid Pfeiffer. Braumüller Verlag, Wien 2014, 156 Seiten, 18,90 Euro.