Die Taliban sind da, in Kabul und Mazar e Sharif herrschen Angst und Schrecken: Die "Wiener Zeitung" hat sich umgehört.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 3 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Es war bereits dunkel, als die ersten Taliban in den Straßen von Mazar e Sharif auftauchten. Die meisten Geschäfte und Restaurants hatten geschlossen. "Die Leute wussten nicht, was sie von den Taliban zu erwarten hatten. Sie fürchteten sich vor ihnen", sagt Ali Mohammad telefonisch gegenüber der "Wiener Zeitung".
Der 35-jährige Familienvater hatte sich auf diesen Tag vorbereitet. "Ich hob Geld von der Bank ab und kaufte Lebensmittel, die ich in meiner Wohnung lagerte", sagt er. Er verließ sein Haus im Westen von Mazar e Sharif und ging mit seiner Frau und der Tochter in eine Wohnung im Osten der Stadt. "Von dort ist es näher zur usbekischen Grenze und dem Flughafen."
Dann ging alles sehr schnell. "Als die Taliban die Stadt betraten, floh Marschall Dostum und einige der Soldaten mit ihm." Erst vier Tage zuvor war der Warlord in Mazar e Sharif eingetroffen, um eine Front gegen die Taliban aufzubauen. "Er verließ Afghanistan über die Grenzstadt Hairatan und ging nach Usbekistan", sagt Mohammad. Die verbliebenen Truppen leisteten keinen Widerstand.
Bis vorige Woche arbeitete Mohammad in einem Zentrum der afghanischen Regierung, in dem Jugendliche für Handwerksberufe ausgebildet werden. Doch dieses Zentrum, wie auch alle anderen Büros der Regierung und Stadtverwaltung, ist jetzt geschlossen. "Die Taliban bewachen die Gebäude, die Angestellten gehen nicht mehr hin", sagt Mohammad. Als die Taliban sich der Provinzhauptstadt näherten, gingen Gerüchte um, sie würden alle töten, die mit der afghanischen Regierung zusammengearbeitet haben. "Bisher hat sich das nicht bestätigt", sagt er. "Aber niemand weiß, wie das in Zukunft aussehen wird."
Der Ansage der Taliban, dass niemand sich zu fürchten brauche, traut er nicht. Nur zu gut erinnert er sich an ihre erste Herrschaft über Afghanistan. "Ich sah amputierte Hände auf einem Platz im Stadtzentrum und hörte, dass sie Leute im Fußballstadium köpften." Sympathisanten der Taliban gebe es trotzdem. Vor allem unter den Menschen am Land, die über keine Bildung verfügen und wenig über den Islam und seine Gesetze wissen, so Mohammad. "Sie glauben, die Taliban sind die Besten, um Afghanistan zu regieren."
Wie es weitergehe, wisse zurzeit niemand. Für Mohammad aber steht fest: "Wenn die Taliban auf die selbe Weise wie in den 90ern regieren, wird es Krieg geben." Die Leute würden zu den Waffen greifen, vielleicht nicht nächste Woche, aber in einem Monat, einem Jahr. "Dann wird es wieder losgehen mit den Kämpfen in Afghanistan."
Als Abdullah (Name von der Redaktion geändert) am 13. August nach Kabul kam, hoffte er, dass die afghanische Armee die Hauptstadt halten würde. Doch er hatte sich getäuscht. Zwei Tage später kontrollierten die Taliban Kabul. Mit seiner Frau und den beiden Kindern versteckt sich der Journalist jetzt in einer gemieteten Wohnung. "Ich habe Angst", sagt der 35-Jährige im Gespräch über WhatsApp.
In den Tagen vor dem Fall Kabuls war die Stadt bereits in Unruhe. "Die Leute wussten, dass die Situation Stunde für Stunde schlechter wird, daher versuchten sie, ihr Geld von den Banken abzuheben", sagt Abdullah. "Sie fürchteten, dass sie es später nicht mehr konnten." Doch als er die hoffnungslos lange Schlange vor der Bank sah, gab er es auf. "Ich ging ohne Geld zurück in die Wohnung."
Am Sonntag den 15. August waren sie plötzlich da. Sie fuhren mit Motorrädern und Autos durch die Straßen und schwangen ihre weißen Flaggen mit dem in schwarzen Schriftzeichen aufgesticktem Glaubensbekenntnis. Die meisten Geschäfte und Restaurants waren zu dieser Zeit geschlossen. Seitdem versteckt sich Abdullah mit seiner Frau, dem Sohn, der 4-jährigen Tochter und einem Vorrat an Brot und Wasser in der Wohnung. "Vom Fenster aus sehen wir einen Checkpoint der Taliban", sagt er. "Sie halten Autos an und durchsuchen sie."
Ob er glaube, dass die Situation sich demnächst entspannen könnte? Das sei schwierig zu sagen. Im Moment verstecken sich die Menschen in den Häusern und Wohnungen. "Wenn wieder mehr Leute auf der Straße sind, werden wir sehen, wie die Taliban sich verhalten."
Abdullah und seine Familie sind von Mazar e Sharif nach Kabul geflohen. Jetzt gibt es keinen Ort mehr, wohin sie gehen könnten. "Sämtliche Provinzen Afghanistans sind in Hand der Taliban." Visa und Flugtickets haben sie keine. "Die Internationale Gemeinschaft hat Afghanistan in der Dunkelheit zurückgelassen", sagt er. "Jetzt können wir nur das Beste hoffen."
Die letzten vier Jahre waren eine gute Zeit für Marwa. In Masar e Sharif hat sie für das dort stationierte Kontingent der deutschen Truppen gearbeitet. Als die Taliban auf die Stadt vorrückten, floh die 29-Jährige mit ihrer Familie zu Verwandten nach Kabul. In den Augen der Islamisten ist sie eine, die mit dem Feind kollaboriert hat.
Zwei Tage nachdem sie Kabul erreichte, fiel die Hauptstadt an die Taliban. "Das war die schlimmste Erfahrung meines Lebens", sagt sie, "Ich bin verzweifelt." Jetzt lebt sie versteckt im Haus ihrer Verwandten. Ihren Kindern, vier und sechs Jahre alt, habe sie erzählt, dass sie auf Urlaub nach Kabul gehen würden. "Sie fragen mich ständig, warum wir nicht in die Parks oder zum Einkaufen gehen - ich habe Angst um sie."
Die sonst so überfüllten Straßen Kabuls seien in diesen Tagen beängstigend leer. Die Geschäfte sind geschlossen, wenige Menschen auf der Straße. "Die meisten davon Taliban-Kämpfer mit großen Waffen", sagt sie. Sie halten die Leute an und fragen, wohin sie gehen und was sie tun.
Den Worten der Taliban, wonach niemand sich zu fürchten brauche, traut sie nicht. "Man kann keinen Terroristen trauen, die vorgeben, nach dem Islam zu handeln und Menschen töten", sagt Marwa.
Gestern habe sie gehört, wie US-Präsident Joe Biden der afghanischen Armee und dem Präsidenten Afghanistans die Schuld für das Fiasko zuschob. Das möge seine Richtigkeit haben, aber auch die Internationale Gemeinschaft sei mitverantwortlich. "Hätten sie das Land nicht verlassen, wären die Taliban nicht auf Kabul vorgerückt." Es sei eine große Schande für die Vereinigten Staaten und die Nato. "Sie haben nicht nur den Krieg verloren, sondern konnten auch die Leute nicht vor den Taliban schützen."
"Ich habe geweint, als ich meine Wohnung in Masar e Sharif verließ", sagt sie. Jetzt lebe ich in Angst, dass man mich erkennen und an die Taliban verraten könnte. Dabei hätte es nicht so weit kommen müssen. Marwa hat als Analystin für die deutschen Truppen gearbeitet. Sie übersetzte, was im Parlament besprochen wurde, sammelte Informationen über die Aktivitäten der Taliban, verfolgte, was diese auf ihren Social-Media-Kanälen schrieben, und wie die Stimmung der Menschen gegenüber den Besatzern war.
Heute hat sie alle Illusionen verloren: "Ich bereue, dass ich für die Deutschen gearbeitet habe." Bereits Ende Juni habe sie für sich und ihre Familie um eine Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland angesucht. Sie wurde abgelehnt. Der Grund: Sie sei nicht direkt beim deutschen Verteidigungsministerium oder den Streitkräften angestellt gewesen, sondern über einen Subunternehmer. Das sei Augenauswischerei. "Die Soldaten waren regelmäßig bei mir im Büro, erhielten Briefings und erteilten mir Aufträge." Es sei offensichtlich, dass sie für die Deutschen gearbeitet habe. 30 bis 40 ihrer Kollegen seien davon ebenfalls betroffen.
Auch sie hätten keine Möglichkeit, das Land zu verlassen. "Wir haben geholfen, das Leben der deutschen Soldaten in Afghanistan sicher zu machen, jetzt lassen sie uns im Stich."