Der griechische Soziologe Tsoukas glaubt, dass Premier Tsipras jetzt in die politische Mitte rücken muss.
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"Wiener Zeitung": Herr Tsoukas, die Regierung von Premierminister Alexis Tsipras hat ihre Mehrheit im Athener Parlament eingebüßt. Mit der Annahne des schmerzhaften Sparprogramms ist Tsipras der linke Parteiflügel seiner Syriza abhanden gekommen. Sie sind nicht nur Soziologe, Sie waren auch einmal Politiker und haben bei den griechischen Parlamentswahlen kandidiert - für die linksliberale Oppositionspartei "To Potami" (der Fluss). Derzeit bringt Tsipras die Sparprogramme mithilfe Ihrer ehemaligen Partei durchs Parlament. Könnten Sie sich vorstellen, dass To Potami in dieser verfahrenen Lage längerfristig mit den Tsipras-Leuten zusammenarbeitet?Haridimos Tsoukas: Ich kann jetzt natürlich nur als unabhängiger Analytiker sprechen. Aber ich würde schon sagen: Ja, das wäre prinzipiell möglich. Herr Tsipras müsste dafür aber wohl die Zusammenarbeit mit seinem Koalitionsparter, der rechtspopulistischen Partei "Anel" (der Fluss), beenden. Ich glaube nicht, dass To Potami mit dieser Partei kooperieren kann. Aber wenn Tsipras Syriza neu ausrichten würde, wenn diese Partei progressiver, wenn sie liberaler würde, dann wäre das schon möglich. Für Tsipras wäre ein solcher Schritt allerdings ein sehr großer. Ich bin nicht überzeugt, dass er diesen Schritt auch machen will.
Tsipras hat seine ganze politische Karriere auf dem Kampf gegen Austeritätsprogramme und marktwirtschaftliche Reformen aufgebaut. Ist es realistisch, dass sich das ändert?
Noch jedenfalls glaube ich das nicht. Er hat es jedenfalls nicht leicht. Selbst dann nicht, wenn er einige seiner Minister als Störenfriede rauswirft. Seine Partei folgt ihm bei so einem Schwenk nur teilweise. Nicht alle sind bereit, liberale Reformen zu unterstützen. Vor fünf Jahren haben wir in der griechischen Politik ein ähnliches Szenario beobachten können wie heute. Das war, als Giorgos Papandreou, der Chef der sozialdemokratischen "Pasok", Premierminister geworden ist und ebenfalls harte Reformen umsetzen musste. Seine Partei war alles andere als begeistert, viele seiner Minister und Abgeordneten haben den Kurs Papandreous kritisiert. Ich denke, jetzt wird es nicht viel anders laufen. Wenn Tsipras die Reformen umsetzen will, muss er erstens einmal selbst an ihre Wirksamkeit und Notwendigkeit glauben. Zweitens müsste er dann den nächsten logischen Schritt gehen und den reformwilligen Teil seiner Partei neu ausrichten - hin auf eine Koalition mit To Potami, der Pasok oder der konservativen "Nea Dimokratia". Das wäre dann eine Regierung, die den Weg der Reformen gehen könnte.
Ist so ein Wechsel realistisch? Pasok und Nea Dimokratia waren bis jetzt nicht gerade mit Tsipras befreundet - vorsichtig ausgedrückt.
Ich halte zum jetzigen Zeitpunkt dieses Szenario auch für eher unwahrscheinlich. Ich glaube, dass es zu Neuwahlen kommen wird, irgendwann im Herbst. Tsipras kann das Land nicht mehr lange regieren, ohne Neuwahlen auszurufen.
Kann sich Griechenland in der angespannten Lage im Moment eigentlich Neuwahlen leisten?
Gut wäre das natürlich nicht. Neuwahlen würden die politische Instabilität und Unsicherheit, die derzeit vorherrscht, verlängern. Vermutlich wird dann auch das Abkommen von Brüssel nicht so umgesetzt, wie es umgesetzt werden sollte. Dennoch: Nur Neuwahlen geben Tsipras die Möglichkeit, sich für die Reformen eine neue politische Legitimation zu holen. Mit dem alten Mandat vom Jänner kann er das Land jetzt nicht mehr führen. Damals hat er sich ja strikt gegen die Rettungsprogramme ausgesprochen. Er braucht einen neuen Wählerauftrag. Wenn er die Wahlen im Herbst gewinnt - und ich bin sicher, dass er die Wahlen gewinnt - und wenn er daraufhin eine andere Regierung bildet, eine liberalere, marktorientiertere Regierung, dann wäre das gut für das Land. Aber da sind viele "wenns" dabei.
Warum glauben Sie, dass Tsipras Neuwahlen eigentlich gewinnen würde? Ist er nach diesem für Griechenland recht schmerzhaften Ergebnis von Brüssel noch immer so populär wie im Jänner?
Ich glaube schon. Er ist immer noch populär. Es gibt keinen anderen Politiker in Griechenland, der es mit ihm aufnehmen kann. Die Nea Dimokratia beispielsweise ist total diskreditiert. Die Sozialisten sind auf ein bisschen mehr als 4 Prozent geschrumpft. To Potami ist auch keine große Partei. Vor allem aber: Viele Griechen sehen - und schätzen - Tsipras als einen Politiker, der für die Interessen des Landes gekämpft hat. Er mag diesen Kampf verloren haben - aber die Leute halten ihm zugute, dass er es überhaupt gewagt hat, gegen die übermächtigen Gegner zu kämpfen. Er hat also noch Ansehen. Die Frage, die sich jetzt stellt, ist, ob er die Kraft und den Willen hat, seine Partei in die politische Mitte zu führen.
Tsipras‘ Bewegungsspielraum hängt sicher auch von den Erfolgsaussichten der griechischen Wirtschaft ab. Meinen Sie, dass das harte Sparprogramm, dem Griechenland nun zustimmen musste, die letzte Hilfe für Griechenland war? Oder braucht es noch einen Schuldenschnitt?Ja, den bräuchte es in der Tat. Die in Brüssel ausgehandelte Lösung wird nicht erfolgreich sein, wenn es nicht zusätzlich einen Schuldenerlass gibt. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel weigert sich zwar, dieser Erkenntnis zuzustimmen. Aber jeder weiß, dass Griechenland diese hohen Schulden nicht zurückzahlen kann. Die gesamte Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass Länder sich nicht erholen können, nicht auf den Wachstumspfad zurückkehren können, wenn nicht ein Teil ihrer Schulden erlassen wird. Selbst wenn das Rettungsprogramm perfekt umgesetzt würde, müsste man immer noch eine Umschuldung durchführen.
In der Nachbarschaft Griechenlands liegt die Türkei. Im Gegensatz zu Griechenland hat sich dieses Land in den letzten Jahren gut entwickelt. Warum ist das so? Hat die türkische Regierung mehr Reformen umgesetzt? Oder wird die hellenische Wirtschaft durch den harten Euro klein gehalten?
Grundsätzlich macht die Mitgliedschaft im Euro-Raum das Leben für ein Land schon schwieriger, weil es nicht mehr in der Lage ist, seine Fiskalpolitik zu kontrollieren. Die wird dann von Frankfurt aus gemacht. Gerade in einem solchen Fall sind Reformen umso wichtiger. Die Türkei - die ja ihre eigene Währung hat - hat in den letzten zehn Jahren tatsächlich eine Menge Reformen in eine liberale, marktwirtschaftliche Richtung umgesetzt. Freilich war der Aufholbedarf der Türkei auch größer als in Griechenland.
Wäre es für Griechenland besser, seine eigene Währung zu haben?
Nein. Das glaube ich nicht. Eine Rückkehr zur Drachme würde Griechenland wirklich ins Elend stürzen.
Warum?
Weil die Währung sofort abwerten müsste - wohl um mehr als 50 Prozent. Das wäre ein massiver Wohlstandsverlust. Auf der anderen Seite halten sich die Gewinne einer Abwertung in Grenzen. Griechenland ist ein Staat, der nicht viel exportiert. Die wenigen griechischen Produkte, die ausgeführt werden, werden so oder so gekauft. Auch die Gästezahlen im Tourismus würden nicht explodieren nach einer Abwertung - dem Tourismus geht es ohnehin gut. Die Vorteile einer Abwertung halten sich also in sehr engen Grenzen. Auf der anderen Seite würde die Abwertung einer neuen Drachme aber alle Importgüter schlagartig teurer machen. Darunter sind so lebenswichtige Dinge wie Medikamente, Treibstoff und auch Lebensmittel. Was dann auf die griechische Bevölkerung zukäme, würde die Probleme, die die Austeritätspolitik zur Folge hatte, weit in den Schatten stellen. Auch geopolitisch hätte ein Austritt Griechenlands aus dem Euro natürlich Konsequenzen. Ein kleines Land wie Griechenland braucht politische Freunde und Partner. Es kann seine Brücken zu den anderen EU-Staaten nicht abbrechen.
Apropos Geopolitik: Viele griechische Politiker liebäugeln mit einer engeren Zusammenarbeit mit Russland. Wäre so eine Art "orthodoxe Allianz" zwischen Athen und Moskau realistisch?
Das glaube ich nicht. Erstens ist Griechenland auch für Russland als EU-Mitglied am nützlichsten. Und zweitens hat Athen mit der Integration in die westliche Welt, die seit dem Ende des Bürgerkrieges 1949 schrittweise vollzogen wurde, eine fundamentale strategische Entscheidung getroffen. Die kann nicht mehr rückgängig gemacht werden - jedenfalls nicht, ohne schwere Folgen nach sich zu ziehen. Ich glaube auch nicht, das es das Ziel Russlands ist, Griechenland vom Westen zu isolieren. Ich als liberaler Demokrat wünsche mir ein solches Szenario jedenfalls nicht. Warum sollten wir Griechen auch Herrn Putin mehr vertrauen als Herrn Juncker?
Zur Person: Haridimos Tsoukas ist Professor für
Organisationsstudien an der Universität Warwick in Großbritannien. Der gebürtige Grieche befasst sich damit, wie Menschen sich in Gruppen verhalten. Tsoukas war in der linksliberalen Oppositionspartei "To Potami" aktiv. Er bloggt unter htsoukas.blogspot.gr