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Ein "klares Ende" der Spezialmilitäroperation in der Ukraine? Was Wagner-Chef Jewgenij Prigoschin wirklich gemeint hat.
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Am 14. April veröffentlichte der Gründer und Financier der berüchtigten russischen Söldnergruppe Wagner, Jewgenij Prigoschin, auf der vom Instant-Messaging-Dienst Telegram entwickelten kostenlosen, anonymen Blog-Plattform Telegraph, einen Programmartikel unter dem Titel "Nur ein ehrlicher Kampf: keine Deals" mit seiner Sichtweise über die Zukunft des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine.
Schnell wurde Prigoschins Aufforderung, der "Spezialmilitäroperation" ein "klares Ende zu bereiten" in der russischen wie auch der internationalen Presse als Wunsch nach einem baldigen Ende des Ukraine-Krieges interpretiert. Doch ist dies nicht ganz richtig. Vielmehr erhofft Prigoschin offenbar eine kurzfristige Eskalation der Kriegshandlungen, an deren Ende ein vorübergehendes Einfrieren des Konfliktes stehen sollte, das eine innere Konsolidierung, eine repressive Säuberungswelle gegen Eliten und Bürokratie sowie über kurz oder lang eine Fortführung der Kämpfe gegen die Ukraine ermöglichen würde.
Am 18. April erklärte Prigoschin gegenüber russischen Medien, er rufe keinesfalls zu einem Ende der Kriegshandlungen auf, sondern lehne lediglich jedwede "weiche Verhandlungslösung" aufs Schärfste ab. Abgesehen davon würde die russische Bevölkerung dringend ein Erfolgserlebnis benötigen; die offizielle Ankündigung des Abschlusses der "Spezialoperation" böte die Gelegenheit, die russischen Eroberungen gebührend zu würdigen und sich in den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine "zu verschanzen, ja festzukrallen".
Schleichende Marginalisierung und Drohung an Putin
Die nur zu offensichtlich erhoffte innenpolitische Aufmerksamkeit durch die russischen Medien hat Prigoschin mit seinem umstrittenen Beitrag jedenfalls erreicht. Schließlich dienten seine Äußerungen dem Ziel, seine Person ins mediale Rampenlicht zu rücken, den Anspruch auf Interpretationsrecht (wenn nicht gar Interpretationshoheit) über den Verlauf des Krieges gegen die Ukraine zu erheben, sich dem nationalistischen Lager als Führungsfigur zu empfehlen und last but not least eine Botschaft samt einer nur schlecht versteckten Drohung an den russischen Präsidenten Wladimir Putin auszurichten.
Gerade Letztere dürfte dem einstigen Herrn über die (Gift-)Küche und die Troll-Armeen des Kreml ein großes Anliegen gewesen sein. Denn in jüngster Vergangenheit hat Prigoschin die Gunst und das offene Ohr des Kreml-Herrschers verloren. Dieser setzte am 11. Jänner überraschend den Kommandanten der russischen Streitkräfte in der Ukraine, Sergej Surowikin, ab und übertrug die militärische Gesamtverantwortung für die "Spezialoperation" dem Generalstabschef Walerij Gerasimow. Surowikin galt innerhalb des Verteidigungsministeriums nicht nur als erklärter Gegner von Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Walerij Gerasimow, sondern auch als Vertrauter und Unterstützer Prigoschins. Seine Absetzung ist also als eine klare Schwächung des brutalen russischen Warlords Prigoschin und damit auch des radikalen Flügels der "Partei des Krieges" zu werten.
Auch wenn die Söldnergruppe Wagner für den Kreml nach wie vor ein wichtiges Asset bei den laufenden Kriegshandlungen bleibt, wurde ihr das Recht entzogen und an das Verteidigungsministerium übertragen, Häftlinge in den Kampf einzuziehen. Damit hängt das Kriegsgeschick von Prigoschins Truppe stärker als jemals zuvor vom Wohlwollen des Generalstabs und nicht zuletzt des Verteidigungsministers Schoigu, eines der schärfsten Gegenspieler ihres Chefs, ab. Insofern bot das Format des offenen Briefes Prigoschin eine der wenigen verbleibenden Möglichkeiten, Putin zumindest indirekt eine Botschaft auszurichten.
Russlands "Tiefer Staat" gegen den Fleischwolf von Bachmut
In seinem Beitrag skizziert Prigoschin eingangs mit breiten Strichen den aus seiner Sicht "heroischen Kampf" um Bachmut sowie die herausragende und geradezu kriegsentscheidende Rolle seiner Söldnerarmee und wirft den USA sowie Großbritannien vor, den Beginn der ukrainischen Gegenoffensive bewusst hinauszuzögern, um ihren eigentlichen Plan - die Auflösung der Russischen Föderation - zu erreichen. Für dessen Umsetzung fänden die USA im russischen "Tiefen Staat" willfährige Unterstützer, so Prigoschin.
Unter dem Begriff "Tiefer Staat" subsumiert Prigoschin in erster Linie wirtschaftsliberale russische Eliten, die der Zusammenarbeit mit dem Westen nicht abgeneigt seien, dem Krieg in Wahrheit ablehnend gegenüberstünden und die russische Führung (gemeint ist natürlich Putin höchstpersönlich, der - gleich Lord Voldemort in "Harry Potter" - nicht beim Namen genannt werden darf) zu "weichen" Verhandlungslösungen drängen könnten.
Sollte dies tatsächlich eintreten, werde die "Sehnsucht der Patrioten nach Gerechtigkeit" dem luxuriösen Leben der russischen Bürokraten ein jähes Ende setzen, droht Prigoschin. Zwischen den Zeilen offenbart sich dabei sein Wunsch, Russlands "Patrioten" anzuführen und ihre "Sehnsucht nach Gerechtigkeit" in die richtigen Bahnen zu lenken. Von den russischen Nationalisten gehe zwar keine Gefahr "für die oberste Staatsmacht Russlands" (also Putin) aus, doch nur, solange diese als "Symbol der nationalen Einheit und des Widerstandes gegen den Westen" fungiere.
Den Ariadne-Faden der Interpretationshoheit an sich reißend, fordert Prigoschin ein vorübergehendes Einfrieren des Krieges, das die innere Konsolidierung, eine repressive Säuberungswelle gegen Eliten und Bürokratie sowie über kurz oder lang die Fortführung der Kämpfe ermöglichen werde. Diesen Ereignissen vorgelagert solle allerdings eine Offensive der ukrainischen Streitkräfte sein, bei der es "keine Almosen zu verteilen" und "keine Verhandlungen zu führen" gelte.
Prigoschin lässt mit diesem Artikel in die nur allzu bekannten Untiefen des absurd-repressiven Denkens wesentlicher Teile der russischen Eliten blicken. Damit verbunden geht ein Zukunftsversprechen einher, das in dieser Radikalform auch für Russland selbst besser niemals eintreten sollte. Denn nach dem Krieg ist ja bekanntlich vor dem (Bürger-)Krieg.