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Essen

Von Rotraud A. Perner

Wissen

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Die große Weihnachtsfresserei ist jetzt wohl Vergangenheit - nach den ersten Tagen am Arbeitsplatz und der willkommenen Gelegenheit, die letzten Reste der obligaten Weihnachtsbäckerei anzubringen. Psychologisch geschulte "Wellness-Beraterinnen" sprich Direkt-Verkäuferinnen diverser Abnehmprodukte telefonieren wild in der Gegend herum wie sie es in ihren Verkaufstrainings gelernt haben und versuchen, das ohnedies schlechte Gewissen der Kampfdiniererschaft zu freiwilliger Umstellung der Ernährungsgewohnheiten zu motivieren.

Diese Form schwarzer Pädagogik hat noch nie gefruchtet: früher waren es Appelle, an die hungernden Kinder der Dritten Welt zu denken - oder an die eigenen Eltern und Großeltern, die im Krieg und oft auch vorher und nachher darben mussten, heute kehrt dieses vielfach Verdrängte in der Fastenpropaganda wieder.

Kulturwandel

Dort, wo du nicht bist, wohnt das Glück, lautet ein Dichterwort, und so zeichnen sich die Reichen, Schönen und Mächtigen in Hungerszeiten durch üppige Formen aus, ist hingegen die Nahrungsversorgung nicht gefährdet, gilt das sehnige Knochenwesen als begehrenswert. Ähnlich ist es mit der Hautfärbung und der Mode: solange die Reichen sonnenschirmbeschützt und zugeknöpft bis zu den Ohrläppchen und den Fingerspitzen vornehme Blässe kultivieren konnten, war es unfein, sonnengebräunt zu sein wie die auf dem Feld und an den Flüssen Schuftenden. Kaum verschwand das Heer der Erwerbstätigen in Büroklausuren und damit auch das Zeichen des länger dauernden Aufenthalts im Freien, wechselte der Teint als Attribut von Sex-Appeal die Farbe: bewundert wurden die offensichtlich von Wind und Wetter (auf der Segeljacht im Mittelmeer) Gebräunten - zumindest in den Alpenländern. Ich erinnere mich noch gut, wie während der Zeit meines Jusstudiums in den frühen 60er Jahren meine liebste Kollegin, eine zarthäutige Blondine aus Sievering mit langen glatten Haaren in Frankreich als "fille scandinavique" gefeiert wurde.

Heute, wo sich auch Frau Knackal in der Mittagspause ins Sonnenstudio zurückziehen kann, ist der dunkle Teint nicht mehr "elitär" genug. Es braucht andere Symbole, um sich als etwas Besonderes über die Konkurrenz erheben zu können. Eine Mode etwa, in der man kaum eine praktische Handlung ausführen kann (oder krank wird, wenn man nicht den ganzen Tag dekorativ am bullernden Kamin "ruhen" kann): überlange Trompetenärmel gehören zu diesen "Modetorheiten", Riesenrollkragen bei ärmellosen Wollpullis, Miniröcke oder die freigelegte Nierengegend (vom knöchellangen Männerrock ganz zu schweigen). Wie dichtete doch Erich Kästner über die "sogenannten Klassefrauen" und ihre Fingernägel? "Wenn es Mode wird, sie abzukauen oder mit dem Hammer blauzuhauen, tun sie's auch. Und freuen sich halbtot."

Realitäten

Die Vorstufe dieser Selbstschädigungen liegt im Schlankhungern. Mädchenhaft dünn (und psychisch ungefestigt) - statt vollweiblich rund (und selbstbehauptend)? Waschbrettbauch (und diszipliniert) statt Waschbärbauch (und genussfreudig)? Im Endeffekt lauert hinter der Abwertung von Menschen, die nicht schon von weitem sichtbar unkritische Anpassungsbereitschaft an (Mode)Diktate und sportliches Durchhaltevermögen signalisieren ein Geheimtest: wie selbst-sicher ist jemand? Wie weit ist jemand bereit, seine ureigensten Bedürfnisse zu verleugnen, zu vergessen?

Unlängst wurde eine Marktstudie publiziert, dass Begriffe wie Frühstück, Mittag- oder Abendessen in Europa schon fast Gastronomie-Geschichte sind. Man isst immer öfter, schneller und mobiler. Europa als Kontinent der Dauer-Snacker? Oder der dauernd Ungesättigten? Oder von ungeduldigen Hetzern Gejagten? Unser Essverhalten wird übrigens im ersten Lebensjahr geprägt. Es sollte mit Muße und Geborgenheit verbunden sein - und bleiben.