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"Ethik ist uns kein Anliegen"

Von Cathren Landsgesell

Politik
"Die Ethik seit der Antike geht davon aus, dass wir das Konzept Verantwortung benötigen, weil wir, wenn auch in begrenztem Rahmen, frei entscheiden können", sagt Konrad Paul Liessmann im Interview mit der "Wiener Zeitung".
© Andreas Pessenlehner

In einer entsolidarisierten Gesellschaft muss man mit Schülern über Verantwortung sprechen, sagt Konrad Paul Liessmann - nur fehle der politische Wille, dafür Raum zu schaffen.


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"Wiener Zeitung": Wenn wir, wie es im Untertitel zum kommenden Philosophicum Lech im September heißt, "Nach dem Ende der Verantwortung" leben, wozu brauchen wir dann eine Ethik oder eine Moral? Konrad Paul Liessmann: Wir brauchen sie umso mehr. Der Untertitel bezieht sich auf zwei Debatten: Zum einen auf die Erkenntnisse der Genetik und der Hirnforschung, die uns die Frage stellen, inwiefern wir überhaupt frei und damit für unser Tun verantwortlich sind. Das hat auch zu einer sehr intensiven Diskussion im Strafrecht geführt: Wenn wir dem Einzelnen Verantwortung absprechen, könnten wir uns darauf beschränken, unerwünschtes Verhalten zu prognostizieren und die Personen aus dem Verkehr zu ziehen – nicht, weil sie sich strafbar gemacht haben oder böse sind, sondern weil sie potenziell gefährlich sind.

Ich glaube nicht, dass wir in einer solchen Gesellschaft, die ohne die Begriffe von Freiheit, Schuld und Verantwortung auskommt, leben möchten. Und zum anderen ist es heute in Bezug auf bestimmte Ereignisse schwierig geworden, sie der Verantwortung Einzelner oder von Gruppen zuzuordnen. Der Klimawandel ist ein Beispiel: Es ist individuell betrachtet weder ökologisch noch moralisch bedenklich, mit dem Auto zu fahren – wenn allerdings viele Millionen Menschen dies tun, hat es katastrophale Auswirkungen. Das ist moralphilosophisch sehr interessant.

Ist der Klimawandel damit prädestiniert für den Ethikunterricht? Ich kann ja umgekehrt betrachtet, auch relativ wenig ändern, weil nicht alle so handeln. Muss ich trotzdem "verantwortlich" handeln?

Natürlich. Die ganze Ethik seit der Antike geht ja davon aus, dass wir das Konzept Verantwortung benötigen, weil wir, wenn auch in begrenztem Rahmen, frei entscheiden können. Wir sind nicht ge-
nötigt, so zu handeln, wie wir handeln. Weil wir auch anders handeln können, müssen wir für unser Handeln auch die Verantwortung übernehmen. Es gibt über diese Freiheit des Menschen auch eine Debatte, die unter anderem danach fragt, ob es damit auch Ziel einer gesellschaftlichen Entwicklung sein muss, Freiheitsräume zu eröffnen und zu erweitern. In unserer Gesellschaft möchten wir zwar Freiheit für uns in Anspruch nehmen, aber bei der Verantwortung winken wir oft ab.

Es wird aber auch an diese individualisierte Verantwortung bzw. Freiheit appelliert: Ob man gebildet ist oder nicht, gesund ist oder nicht, wird als Resultat des eigenen Verhaltens gewertet, bis hin zu dem Punkt, wo man zum Beispiel von übergewichtigen Menschen erwartet, dass sie mehr für die Krankenversicherung zahlen.

Das ist eine recht junge Entwicklung in Gesellschaften mit starken sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Konzepten. Man versucht jetzt auszuloten, was man dem Einzelnen an Verantwortung – und das heißt auch: Kosten – aufbürden kann. Das ist schwierig, weil unsere Versicherungssysteme auf Solidarität aufbauen. Man kann nun auch argumentieren, dass Menschen ein bestimmtes risikobehaftetes Verhalten unterlassen können, weil sie frei sind. Ein erwachsener Mensch sollte wissen, was er tut. Meines Erachtens müssen wir hier eine Gratwanderung gehen, um die notwendige Solidarität zu erhalten und den Menschen zugleich die Verantwortung nicht abzusprechen.

Wenn wir uns möglicherweise in Richtung einer heterogenen und weitgehend entsolidarisierten Gesellschaft bewegen – hätte der Ethikunterricht da eher eine emanzipative oder eine stabilisierende Rolle?

Ich würde eher sagen, es ist bezeichnend, dass wir gar nicht über den Ethikunterricht sprechen, obwohl wir in einer zunehmend entsolidarisierten heterogenen Gesellschaft leben. Ein säkularer Ethikunterricht könnte tatsächlich die einzelnen Gruppierungen zur Sprache kommen lassen, um die Möglichkeit gemeinsamer Normen, Richtlinien usw. zu diskutieren. Die Geschichte normativer Setzungen seit der Antike zu reflektieren, darüber nachzudenken, was Moral ist, was Ethik ist, was Menschenrechte und Werte sind, halte ich für ganz zentral. Nur ist das für uns in Österreich weder ein politisches noch ein gesellschaftliches Anliegen. Mit dem Hinweis, es sei zu teuer, hat man sich nicht einmal zu der Minimallösung durchgerungen, den Ethikunterricht flächendeckend als Alternative zum Religionsunterricht anzubieten. Nicht einmal dazu.

Warum ist es angesichts der Probleme der modernen Gesellschaft wichtig, sich historisch mit Ethik zu befassen?

Weil Ethik erstens eine Erfindung der antiken Philosophie ist, keine Erfindung der Religionen. Religionen kannten göttliche Gebote, aber keine Ethik als wissenschaftliche, vernunftorientierte Disziplin. Viele der grundsätzlichen Fragen der Ethik lassen sich erarbeiten, wenn man sich auf die jahrtausendalte Auseinandersetzung bezieht. Zweitens gehört es zur Bildung eines Menschen, zu wissen, woher Probleme, Fragestellungen, Begriffe, Argumente und Konzepte kommen. Begriffe wie Verantwortung oder Freiheit verstehen wir nicht, wenn wir nicht wissen, wie sie entstanden sind und diskutiert wurden. Die Menschenrechte sind nicht vom Himmel gefallen, sondern sie wurden blutig erkämpft. Das darf man nicht vergessen. Wenn wir einen Bildungsanspruch haben, dann muss das Teil des Unterrichts sein.

Warum kann dieser Teil nicht nebenbei als Unterrichtsprinzip stattfinden?

Ethik ist eine wissenschaftliche, philosophische Disziplin und wenn man ernsthaft daran interessiert ist, braucht man einen flächendeckenden verpflichtenden Ethikunterricht, in dem eine philosophische und gesellschaftliche Auseinandersetzung stattfinden kann. Lehrer müssen dafür gut vorbereitet werden und brauchen eine eigene Ausbildung. Es gibt viele engagierte Lehrer, die aber unter dem Druck stehen, ihre Lehrpläne zu erfüllen. Ethik als Unterrichtsprinzip liefe darauf hinaus, dass es mal hier, mal da ein bisserl Moralerziehung gibt, aber keine wirkliche ethische Bildung.