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EU 4.0 - vom Friedensprojekt zum Feindbild

Von Daniel Witzeling

Gastkommentare
Daniel Witzeling ist Psychologe und Sozialforscher. Er leitet das Humaninstitut Vienna (www.humaninstitut.at) und beschäftigt sich als Sozialforscher mit angewandter Psychologie auf verschiedenen gesellschaftlichen Tätigkeitsfeldern. Foto: privat

Trotz Brexit steht eines fest: Die Menschen in Europa kommunizieren und kooperieren über die Grenzen der Länder hinweg besser als je zuvor.


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Die Grundidee eines vereinten Europas nach den entsetzlichen Vernichtungskriegen im vergangenen Jahrhundert war auf ökonomischer und sozialer Ebene durchaus sinnvoll. Der Grundgedanke, dass man gemeinsam stärker ist als alleine und die gesamte Europäische Union mehr sei als die Summe der einzelnen Mitgliedstaaten, folgt einer gewissen nachvollziehbaren Logik.

Paradox ist, dass sich dieses Paradigma ins Gegenteil verkehrt hat und aus dem Miteinander ein psychodynamisches Gegeneinander wurde, bei dem es im Endeffekt um einen ganz banalen Ressourcenkonflikt geht, der sich darin manifestiert, dass sich einige EU-Länder übervorteilt sehen. Die empirische Evidenz für diese Tatsache folgte im britischen EU-Referendum, dessen Resultat ein nicht so einfach vorherzusehender Brexit war.

Eines steht aber fest: Die Menschen in Europa kommunizieren und kooperieren über die Grenzen der Länder hinweg besser als je zuvor. Die mentalen Grenzen können durchaus als abgebaut gesehen werden. Vereine, Unternehmen und auch politische Organisationen leben den europäischen Grundgedanken. Dies sieht man sogar bei der guten Vernetzung der EU-Gegner, die durch ein gemeinsames Ziel vereint sind und über die nationalen Grenzen hinweg einen strategischen Informationsaustausch betreiben.

Warum gelingt dies den EU-Befürwortern nicht so gut? Eines ist klar: Die Politik muss einen ehrlichen und transparenten Neuanfang gestalten, der nicht nur auf bloßen Floskeln wie "Wir haben die Botschaft verstanden" beruht. Hier müssen rasch konkrete Taten folgen, soll die Europäische Union nicht bald der Vergangenheit angehören.

Wirtschafts-versus Sozialunion

Wie das Votum in Großbritannien eindrucksvoll zeigt, stehen die Menschen, so wie es viele Politiker in jüngster Zeit gebetsmühlenartig von sich geben, schon lange nicht mehr im Zentrum. Eben diese Menschen sehen sich nur noch als reine Statisten und nehmen die EU zunehmend als Wirtschaftsunion für Großkonzerne und bestimmte Interessengruppen und nicht als Sozialunion für die Bürger wahr. Die immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich in der Gesellschaft verstärkt diesen Eindruck.

Die Argumentation von wirtschaftlichen Vorteilen durch die Europäische Union kann der Durchschnittsbürger in seiner Lebensrealität nicht nachvollziehen. Er nimmt das EU-Parlament in Brüssel als eine Art Paralleluniversum wahr, das permanent Verordnungen vorbei an den Interessen und Bedürfnissen der Menschen durchwinkt. Wie viele klein- und mittelständische Unternehmen im Zusammenhang mit der EU leidvoll selbst erfahren mussten, ist dieser Eindruck in vielen Fällen nicht ganz so weit weg von der Realität. Dass in diesem sozial-emotionalen Klima das kollektive Unterbewusstsein das Votum der Briten in Richtung eines Austritts beeinflusst hat, ist da nicht verwunderlich.

Europäische Unionder Menschen

Damit die Menschen wieder ins Zentrum rücken, müssen sie auch stärker und nachvollziehbar in die Entscheidungen in Brüssel eingebunden werden. Auch das Feingefühl und die soziale Kompetenz - sprich: die Soft Skills der EU-Politiker und Beamten - wären gefragt, um das Feindbild EU wieder in eine positive Zukunftsmission zu wandeln. Ein stärkerer Einsatz der direkten Demokratie wie in der Schweiz auch durch den Einsatz Neuer Medien wäre eine Lösung, um die Menschen partizipativ an Vorgängen in der EU teilhaben zu lassen und die Identifikation mit dieser zu erhöhen.

Die Menschen wirklich in den Reformprozess der EU einzubeziehen, wäre ein Weg, um aus dem aktuellen Dilemma herauszukommen. Vielleicht müsste man auch einfach zugeben, dass sich die Verantwortlichen der EU verfahren und in Bereiche eingemischt haben, die die Freiheit der Mitgliedstaaten in unverhältnismäßigem Ausmaß einschränken. Vereint sein trotz Vielfalt sollte das Ziel sein. Jeder Staat sollte seine ihm eigene Individualität behalten und dennoch Teil des großen Ganzen sein können. Denn wo Einfalt statt Vielfalt herrscht, wird niemand lange bleiben wollen, und weitere Austritte wären nur eine Frage der Zeit.