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EU als Werte- und Interessens- gemeinschaft: ein Widerspruch?

Von Paul Schmidt

Gastkommentare
Paul Schmidt ist Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik.

Effektivere Regelungen könnten die Einhaltung europäischer Werte verbessern.


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Noch hat das Jahr 2016 wenig Neues gebracht. Eine "Koalition der Willigen" feilt nach wie vor an europäischen Antworten auf die Flüchtlingsfrage. Eine weitere Gruppe von EU-Staaten widersetzt sich der EU-weiten Aufteilung von Flüchtlingen. Die Umsetzung von Beschlüssen verläuft zögerlich, während die Suche nach einer letztlich von allen EU-Mitgliedern akzeptierten Kompromissformel weitergeht.

Auf nationaler Ebene werden unterdessen Fakten geschaffen. Der Wertediskurs in den Integrationsdebatten der am stärksten betroffenen EU-Länder nimmt zu. Emotionen gehen hoch. Asylwerber und Flüchtlinge sollen schnellstmöglich europäische Werte vermittelt bekommen und werden pauschal als homogene Personengruppe beschrieben, die außerhalb "unserer Wertegemeinschaft" stehe.

Wie ist es in diesem Umfeld aber eigentlich um die vielbeschworene europäische Wertegemeinschaft bestellt? Die EU stellt insgesamt den Anspruch, eine Grundrechtsgemeinschaft zu sein und für ihre vertraglich verankerten Werte einzutreten. Die tatsächliche Einhaltung und Umsetzung dieser Werte und Rechte steht allerdings auf einem anderen Blatt. Vermeintliche nationale Interessen geben letztlich den Ausschlag.

Sanktionsmechanismen bei Verletzung europäischer Werte durch einen EU-Mitgliedstaat gibt es zwar, sie sind jedoch in der Praxis zahnlos. Die abschreckende Wirkung existiert nicht in ausreichendem Maß, wie aktuelle Entwicklungen in Ungarn und Polen zeigen. Bei einem Verstoß gegen grundrechtliche Verpflichtungen gibt es zumindest die Möglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof. Der Vorfall muss allerdings unter das Unionsrecht fallen, und die Verfahren selbst sind meist langwierig.

Im Rahmen des EU-Beitrittsprozesses wird jedes Land verpflichtet, demokratische, rechtsstaatliche und menschenrechtliche Kriterien zu erfüllen. Sobald ein Staat Mitglied der Europäischen Union ist, gibt es aber kein adäquates Mittel mehr, um die Einhaltung dieser "Kopenhagener Kriterien" regelmäßig zu kontrollieren.

Ganz anders ist da etwa die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion aufgebaut. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt schreibt die Einhaltung von Haushaltskriterien auch nach dem Euro-Beitritt fest und definiert die Begrenzung von Budgetdefiziten und Verschuldungen der einzelnen Euroländer. Werden die festgelegten Grenzen dennoch überschritten, können in letzter Konsequenz Sanktionen verhängt werden.

Die Einhaltung der europäischen Werte und Grundrechte lässt sich aber nicht in Zahlen fassen. Insbesondere der differenzierte Umgang mit Flüchtlingen zeigt, dass diese nicht überall vorrangig gelten, neu definiert und nur allzu leicht anderen Interessen untergeordnet werden.

Ein "Kopenhagener Pakt" analog zum Stabilitäts- und Wachstumspakt könnte helfen. Zur konsequenten Umsetzung reicht die regelmäßige Bewertung der Grundrechtssituation in den EU-Mitgliedstaaten nicht aus. Es braucht vielmehr ein stärkeres Durchgriffsrecht, mit dem die EU letztlich in der Praxis als Wertegemeinschaft auftritt und als solche auch wahrgenommen wird.