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Bedenken gegen die nukleare Stromproduktion sind nicht erst seit der in Österreich überaus heftig geführten Auseinandersetzung um das grenznahe tschechische Atomkraftwerk Temelín am Tapet. Die Ängste der Bevölkerung gründen auf einer unbekannten, möglicherweise großen Gefahr der Atommeiler. Die Terroranschläge vom 11. September taten ein Übriges dazu. Rufe nach einem EU-weiten Atomausstieg wurden laut. Die Diskussion darüber steckt freilich noch in den Kinderschuhen. Ist die Reduktion oder gar das Ende der Atomenergie ein Projekt, das die politischen Entscheidungsträger überhaupt verfolgen wollen?
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Vom ökologischen Randthema könnte der generelle Atomausstieg auf die politische Tagesordnung avancieren. Im Energiekapitel zu den EU-Beitrittsverhandlungen, das die Europäische Kommission noch vorige Woche - unmittelbar nach dem Temelín-Gipfel - vorgelegt hat, ist die Atomenergie nur ein kleiner Aspekt. Die Kommission, die unter den EU-Aufgaben das wichtige Initiativrecht besitzt, dürfte wohl kaum in Richtung Atomausstieg tätig werden - ganz im Gegenteil. Schon gar nicht könne ein Atomausstieg in den Erweiterungsverhandlungen erzwungen werden. Wer die Positionen innerhalb der EU kenne, wisse das, meinte Agrarkommissar Franz Fischler in seiner Reaktion auf den Kompromiss zum AKW Temelín.
In der Tat herrscht in der Europäischen Union - wie so oft - auch hinsichtlich der Atompolitik keine einheitliche Position vor. Wenn überhaupt, wird das Thema sehr kontroversiell diskutiert. Da sind einerseits die strikten Atomenergiegegner u.a. aus der Grünen Bewegung und Ländern, die den Atomausstieg bereits beschlossen haben oder in denen es keine Kernkraftwerke gibt. Andererseits wird in der EU-Kommission, namentlich von der für Energie- und Verkehrsfragen zuständigen Kommissarin Loyola de Palacio, der Atomstrom als für den Klimaschutz "saubere" Energie ins Treffen geführt. Wenngleich die Frage des Atommülls nach wie vor ungelöst ist. Und im Europäischen Parlament widerspiegeln die nationalen Volksvertreter die jeweils offizielle Position ihres Landes. Denn die "Entscheidungen über Bau und Betrieb von kerntechnischen Anlagen unterliegen sowohl nach Gemeinschafts- wie Völkerrecht weiterhin der nationalen Souveränität", hat einmal mehr Österreichs Umweltminister Wilhelm Molterer noch vor dem Temelín-Gipfel in Brüssel in seinem Bericht zum Melker Prozess hervorgestrichen.
Größte AKW-Dichte weltweit in Europa
Faktum ist: Europa hat weltweit die größte AKW-Dichte. Weltweit sind derzeit 434 Reaktoren in Betrieb, davon 145 in der EU. In den USA laufen 104 Reaktoren (siehe Grafik). In der EU betreiben acht Mitgliedstaaten Atomkraftwerke. Italien ist bereits ausgestiegen. Sechs EU-Länder sind nie in die Kernenergie eingestiegen: Griechenland, Portugal, Irland, Dänemark, Luxemburg und Österreich. Von den acht AKW-Ländern in der Union haben fünf den stufenweisen - und langfristigen (30 bis 40 Jahre) - Ausstieg beschlossen oder angekündigt. Dass jetzt die Politiker von ÖVP bis SPÖ Österreich als "atomfrei" hervorstreichen, ist eine Ironie der Geschichte. Die Ablehnung des AKW Zwentendorf war 1978 auch ein politisches Signal gegen den damaligen Kanzler Bruno Kreisky.
Nationales Recht
Unter den zwölf EU-Beitrittskandidaten stehen in fünf Ländern keine AKW: in Polen, Estland, Lettland, Zypern und Malta. Von den anderen sieben Kandidaten haben sich drei Länder zu Reaktorschließungen verpflichtet: die Slowakei (Bohunice), Litauen (Ignalina) und Bulgarien (Kosloduje). In Ungarn wird seit längerem über einen Atomausstieg diskutiert, wobei hier in der Regierungspartei Fidesz selbst keine Einigkeit herrscht.
Die Energiefrage fällt - nicht zuletzt auf Drängen von Österreich - nach wie vor in den nationalen Rechtsbereich der EU-Mitgliedstaaten. In den Beitrittsverhandlungen konnte daher lediglich aus Sicherheitsgründen mit drei Kandidatenländern die Schließung von Kernkraftwerken vereinbart werden; bei den AKW Bohunice, Ignalina und Kosloduje handelt es sich um gefährliche Reaktoren der alten, sowjetischen Bauart. Alle anderen Kernkraftwerke in den Beitrittskandidaten sollen mit westlicher Hilfe nachgerüstet werden, um möglichst sicher zu sein. Dem hat auch Österreich zugestimmt.
Klärungsbedarf Österreichs
Dass im Fall des AKWs Temelín Österreich mit einem Veto gegen Tschechiens EU-Beitritt drohe, sei "eine Änderung der Spielregeln", so Harald Trettenbrein von der Vertretung der Europäischen Kommission in Wien. Das sei auf EU-Ebene auf Unverständnis gestoßen und werde auch innerhalb von Österreich klar gestellt werden müssen. Trotz der von Tschechien nun zugesagten Sicherheitsmaßnahmen hält die FPÖ weiter am Anti-Temelín-Volksbegehren fest. Wie auch immer das Ergebnis der Initiative ausfallen wird, in der Energiepolitik auf europäischer Ebene wird es kaum etwas bewirken.
Einen europaweiten Atomausstieg hält EU-Regionenkommissar Michel Barnier mittel- und langfristig schlicht für "völlig unrealistisch", wie er unverblümt im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" bei seinem Wien-Besuch erklärte. Und der ehemalige Umweltminister Frankreichs beeilte sich hinzuzufügen: "Nicht dass ich ein Atom-Befürworter wäre. Aber ich sehe keine Alternativen." Vor allem Frankreich und Großbritannien bräuchten ihre AKW zur Energieversorgung. Die "Grande Nation" ist der weltweit größte Atomstromerzeuger mit einem Anteil von 76 Prozent Kernenergie an der gesamten Stromproduktion, was mit einem Mangel an Ressourcen begründet wird. Das zur Kernspaltung notwendige Uran bezieht Frankreich aus Afrika. Hier haben die einst sehr aktiven Kolonialherren rechtzeitig vorgesorgt und die Uranvorkommnisse aufgekauft, um sich vom arabischen Raum unabhängig zu machen.
Österreichs wichtigste Stromressource ist das Wasser: An die 78 Prozent der Energie wird hier zu Lande in Wasserkraftwerken erzeugt, der Rest in Wärmekraftwerken. Tschechien habe hingegen nicht die Möglichkeit zur Nutzung von Wasserkraftwerken, argumentierte die Prager Regierung immer wieder im Match um Temelín. Man brauche das AKW.
Atomausstieg als "Energiewende" oder . . .
Den Atomausstieg beschlossen haben Deutschland, Schweden und Belgien; dort liegt der Anteil der Atomenergie bei jeweils 31, 39 bzw. 57 Prozent der gesamten Stromproduktion. Der Atomkonsens, der im Sommer dieses Jahres in Deutschland mit der Energiewirtschaft unterzeichnet wurde, ist aus der Sicht der rot-grünen-Regierung ein "wichtiger Schritt zur Energiewende". Doch der Beschluss wird (nicht nur) von Umweltschützern mit einiger Skepsis gesehen. Laut der Atomgesetznovelle haben die 19 deutschen Atommeiler Regellaufzeiten von 32 Jahren. Ein festes Datum für das Abschalten des letzten AKWs gibt es nicht. Umweltminister Jürgen Trittin hatte das Jahr 2020 als "nur eine Größenordnung" genannt. Jüngst hat er aber als Konsequenz aus den Terroranschlägen in den USA eine frühere Abschaltung der älteren Atomanlagen ventiliert.
"Etikettenschwindel"?
Jedenfalls darf Deutschland ab Juli 2005 seinen Atommüll nicht mehr in Wiederaufbereitungsanlagen ins Ausland (La Hague in Frankreich, Sellafield in Großbritannien) exportieren. Stattdessen müssen die AKW-Betreiber in der Nähe der Kraftwerke Zwischenlager errichten, wo die verbrauchten Brennelemente 40 Jahre abkühlen können sollen. Das bringt wiederum die Bevölkerung auf die Barrikaden, die sich gegen zusätzliche Nukleareinrichtungen sperrt. Deutsche Umweltschützer sehen denn auch den Atomkonsens als einen Rückschritt und sprechen von "Etikettenschwindel". Die Novelle erlaube der Atomlobby, Kernkraftwerke bis ans Ende ihrer technischen Funktionsfähigkeit - ungeachtet der Reaktorsicherheit - zu betreiben, argumentieren sie. Energie werde aus dem Ausland importiert werden müssen, vielleicht aus Anlagen, die deutschen Sicherheitsstandards nicht genügen würden. Der deutsche Industrieverband spricht aus anderen Gründen von einer "falschen Weichenstellung": Die AKW würden derzeit mehr als 50 Prozent des Grundlastbedarfs, also der Stromversorgung rund um die Uhr, abdecken. Darauf seien vor allem stromintensive Bereiche der Industrie angewiesen. Nach dem Ausstieg aus der Atomenergie könne der Strombedarf nicht mehr gedeckt werden.
Die Sicherung der Energieversorgung als Killerargument gegen einen europaweiten Atomausstieg? Die Atomenergie garantiere die Stromversorgung in der EU, und im Gegensatz zu Kohlekraftwerken werde die Atmosphäre nicht zusätzlich mit Treibhausgasen belastet. So lautet die Argumentation im "Grünbuch" zur Energie-Versorgung, das EU-Energiekommissarin Loyola de Palacio vor einem Jahr vorgelegt hat. Die Kommissarin fordert sehr wohl, die Forschung in der Nuklearenergie zu verstärken; die Beherrschung der Atomkraft sei wichtig für die Union, um effizientere Kernreaktoren bauen zu können. Auch müsse die Frage der Atommüll-Entsorgung (die Endlagerung dauert mindestens 40.000 Jahre, Anm.) gelöst werden.
"Energieversorgung sichern"
Gegen die Atom-Passagen in dem Grundsatzpapier hagelte es sogleich heftigen Widerstand von Österreichs Kommissar Fischler, den deutschen Kommissaren Günter Verheugen und Michaele Schreyer sowie von Schwedens Umweltkommissarin Margot Wallström. Die Grünen im EU-Parlament warnten die spanische Energiekommissarin de Palacio vor einem "Missbrauch ihrer Machtposition" zu Gunsten der Atomindustrie. Doch die EU-Kommission will keinesfalls noch mehr Energie aus dem EU-Ausland importieren. Die Energie-Abhängigkeit betrage derzeit 50 Prozent und könne auf 70 Prozent steigen, "wenn in den kommenden 20 bis 30 Jahren nichts geschieht". 45 Prozent der Ölimporte stammten aus dem Nahen Osten, 40 Prozent der Gasimporte aus Russland. Die EU sei, wird im EU-Grünbuch gewarnt, "ein ohnmächtiger Akteur auf dem Weltmarkt".
EU will unabhängig sein
"Das ist ein altbekannter psychologischer Trick zum Schutz für die herkömmlichen atomaren und fossilen Energieträger", erwidert der deutsche Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer (SPD) im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Der wortgewandte Vorkämpfer für die erneuerbaren Energien und Träger des alternativen Nobelpreises spricht von der "größten Energielüge unserer Zeit", dass erneuerbare Energieträger - die "vollständig emissionsfrei" seien - bei entsprechender Förderung nicht den Strombedarf decken könnten. Windräder etwa würden die Umwelt weniger belasten als Hochspannungsmasten und seien sogar ein "Landschaftsgewinn", so Scheer.
Die EU-Kommission will sich jedoch lediglich darauf festlegen, dass der Anteil der erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2010 auf zwölf Prozent verdoppelt werden soll. Dazu werden - nicht näher definierte - steuerliche Anreize angekündigt. In Deutschland etwa werden erneuerbare Energien gefördert, indem sie zu gesetzlich festgelegten Mindestpreisen abgenommen werden müssen. Das hat wiederum EU-Wettbewerbskommissar Mario Monti auf den Plan gerufen. Denn laut EU-Recht ist staatliche Beihilfe untersagt ("Wettbewerbsgleichheit"), allerdings nur wenn direkte oder indirekte Mittel im Spiel sind. Das ist in Deutschland aber nicht der Fall. Vorerst dürfte dort also die Ökostromförderung beibehalten werden können.
Klimaschutz versus Atomausstieg
Einen Bärendienst hat den hehren ökologischen Bestrebungen ausgerechnet Deutschlands (parteiloser) Wirtschaftsminister Werner Müller erwiesen. Er warnt in seinem aktuellen Energiebericht vor dem seiner Ansicht nach zu ehrgeizigen Klimaschutzziel, den Kohlendioxid-Ausstoß um 40 Prozent bis zum Jahr 2020 zu verringern. Das sei wirtschaftlich nicht vertretbar. Genauso argumentierte im Übrigen US-Präsident George W. Bush - und machte sich in Europa unbeliebt, als er zu Jahresbeginn den Ausstieg der USA aus dem Klimaschutz-Protokoll von Kyoto ankündigte. Der deutsche Wirtschaftsminister meint zudem, Klimaschutz und Atomausstieg seien nicht vereinbar, - und befindet sich damit in guter Gesellschaft mit der EU-Energiekommissarin.
Über mögliche Energieeinsparungen im Verkehr oder in den privaten Haushalten wird hingegen kaum diskutiert, monieren nicht nur Grüne Politiker. "Die EU muss verstärkt in energiesparende Maßnahmen und in erneuerbare Energien investieren", appelliert FPÖ-EU-Abg. Hans Kronberger. Forderungen an die EU gibt es viele. Laut Bundeskanzler Wolfgang Schüssel müsse die Union beim AKW-Ausstieg helfen. Zumindest wird nun aber über einheitliche AKW-Sicherheitsstandards diskutiert.
Der EU-Ratsvorsitzende, Belgiens Premier Guy Verhofstadt, will sich darum bemühen, die atomaren Sicherheitsstandards auf die Tagesordnung des EU-Gipfels in knapp zwei Wochen zu bringen. Sollte das gelingen, kann sich Österreichs Kanzler Schüssel ein Stück des Erfolges zu gute halten. Ob die Atommächte Frankreich und Großbritannien mitmachen werden, ist jedoch mehr als fraglich.