Das Tauziehen um die Einführung der Visumpflicht durch Polen und Litauen vom 1. Juli 2003 an beherrscht alle politischen Gespräche in Kaliningrad, dem früheren Königsberg. Dies laufe darauf hinaus, dass der freie Kontakt der Russen mit ihren Landsleuten von den Beschlüssen fremder Staaten abhänge und das sei unannehmbar, argumentiert der russische Präsident Wladimir Putin - und mit ihm die meisten Russen in Kaliningrad. Die Litauer und die Polen verweisen auf die Europäische Union in Brüssel, die auf Abschottung der Grenzen besteht, wenn beide Länder Mitglieder der EU werden.
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Offiziell geht es bei dem Streit um den Transit von dem knapp eine Million Einwohner umfassenden Gebiet von Kaliningrad in das russische Mutterland bzw. nach Weißrussland. Transitreisende sind aber nur ein kleiner Prozentsatz der Tausende von Menschen, die täglich die Grenzübergänge verstopfen. Nur ein Prozent der Russen aus Kaliningrad, die im letzten Jahr die Grenze nach Polen überschritten, gaben nach Berichten der polnischen Zeitschrift "Polityka" eine andere Region Russlands als Ziel an. Im Fall Litauens dürfte dies etwas mehr sein, denn die wichtigsten Transitstrecken per Straße und Bahn führen über Litauen. Litauen verlangt im Gegensatz zu Polen bisher nur die Vorlage des Personalausweises.
Das Gros der Reisenden sind russische, polnische und litauische Kleinhändler bzw Zigaretten- und Alkoholschmuggler. In den Grenzregionen leben ganze Dörfer von diesem Geschäft mit den billigeren Preisen in Kaliningrad. Auch ohne Visum ist das frühere Königsberg zur Zeit für normale Reisende weitgehend von der Außenwelt abgeschnitten: An den Übergängen muss man stundenlange Wartezeiten unter abenteuerlichen Umständen in Kauf nehmen. Insofern könnte die Einführung der Visumpflicht ein Ende dieser praktischen Blockade des Landweges bedeuten.
Polen und Litauen bereiten sich schon jetzt vor. Im Gebäude des polnischen Generalkonsulats sollen Wohnungen in Büroräume verwandelt und auf dem Hof Container aufgestellt werden, um mit einem erweiterten Mitarbeiterstab des Andranges Herr zu werden. Der neue Generakonsul Jaroslaw Czubinski beschäftigte sich bisher im Warschauer Außenministerium mit Visumfragen. Gedacht ist an preiswerte Mehrfachvisa, denn man will "keine neuen Barrieren" schaffen.
Auch die Litauer wollen ihre Arbeitskapazität erweitern und denken an die Errichtung eines neuen Konsulats in Tilsit (Sowjetsk). Einen visumfreien Korridor von Kaliningrad mit verplombten Zügen und speziellen Straßen nach dem Muster der Transitstrecken durch die frühere DDR nach Westberlin lehnen sowohl Brüssel als auch Polen und Litauen ab. Es muss also eine Lösung für Transitvisa gefunden werden, die keine Weiterreise in ein anderes europäisches Land ermöglichen. Die Russen sind erst jetzt aufgewacht.
Obwohl sie seit Jahren wissen, was auf sie zukommt, gibt es keine regelmäßige Fährverbindung nach St. Petersburg. Dazu müsste erst ein Hafenbecken des militärischen Sperrgebietes bei Pillau (Baltijsk) freigegeben werden.
Denkbar wäre auch eine preiswerte Luftbrücke ins Mutterland. Bisher hat nur jeder fünfte Einwohner Kaliningrads einen Reisepass.