Nach Ausschreitungen beim Spiel Serbien gegen Albanien bekräftigt Albaniens Regierungschef Friedens- und Reformbemühungen seines Landes.
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"Wiener Zeitung": Herr Rama, Ihr Land ist seit mehr als einem Jahrhundert ein unabhängiger Staat, trotzdem nimmt Albanien nach wie vor eine Abseitsstellung in Südosteuropa ein. Warum?Edi Rama: Nicht nur Albanien, sondern das gesamte Südosteuropa - oder der Westbalkan, wie wir lieber sagen - liegen immer noch abseits als Region. Und es gibt nicht viel zu erklären, wenn Sie nur daran denken, dass in unserer Geschichte 2014 das erste Jahr ohne Grenzkonflikte ist. Vor 100 Jahren brach hier der Erste Weltkrieg aus, seither durchlebten wir Kriege, Blutvergießen, Diktaturen, ethnische Säuberungen, religiöse Konflikte und große Meinungsverschiedenheiten über alles. Letztendlich haben wir Frieden geschlossen, nicht weil wir Engel geworden sind, sondern ganz einfach weil wir alle zu Europa gehören wollen.
Nachdem Sie im September vergangenen Jahres Regierungschef geworden sind, erhielt Albanien im Juni dieses Jahres endlich EU-Kandidatenstatus. Was sind die größten Probleme, die Sie zu lösen haben, um Ihr Land bereit zu machen für die europäische Integration?
Es geht nicht darum, ein großes Problem zu lösen, sondern darum, dass ein kleines Land ein moderner Staat wird durch radikale Modernisierung der "Governance", also des Regierens, der öffentlichen Institutionen und Dienstleistungen.
Für Außenstehende ist es nur schwer zu verstehen, warum beispielsweise Beamte ihren Arbeitsplatz verlieren, sobald in Tirana eine neue Regierung im Amt ist. Wie lässt sich das erklären?
Das kann passieren, ist aber bei Weitem nicht die Regel. Wir haben eine schwache öffentliche Verwaltung, die wir gerade zu verbessern versuchen, indem wir sie stabiler und leistungsorientierter machen.
Die albanische Bevölkerung spricht sich mit überwältigender Mehrheit für die EU-Mitgliedschaft aus. Zudem lebt eine große Diaspora in den EU-Ländern. Sie selbst etwa lebten jahrelang in Frankreich. Was erwarten sich die Albaner von der Europäischen Union?
Gott sei Dank und dank der Klugheit der Albaner, in Albanien, Kosovo und wo auch immer sie am Westbalkan leben, wollen sie Frieden, Wohlstand und natürlich die EU-Mitgliedschaft! Und ich muss Ihnen sagen, Europa sollte sich nicht so sehr darüber wundern, was Albaner von der Europäischen Union erwarten, sondern sollte vielmehr so bald als möglich verstehen, dass die EU Albanien und den Balkan braucht, genauso wie Albanien und der Balkan die EU brauchen. Ganz einfach! Denn wenn parallel mit der sogenannten "Erweiterungsmüdigkeit" innerhalb der EU eine Art "Geduldsmüdigkeit" wächst und, Gott behüte, am Balkan vorherrscht, dann weiß nur Gott alleine, wie sehr das beiden Seiten schadet.
Aufgrund der nationalistischen Vorfälle beim Fußballmatch zwischen Serbien und Albanien vergangene Woche wurde Ihr Serbien-Besuch verschoben . . .
Sehr angesehene Zeitungen und Fernsehsender der demokratischen Welt haben das ganze nationalistische Spektakel, das in Belgrad Stunden und Tage dauerte, nicht begriffen. Es begann damit, dass im Fußballstadion nicht eine einzige albanische Flagge erlaubt wurde, aber auch keine Schals oder Jacken mit albanischen Symbolen. Nachdem die albanische Hymne gesungen wurde, ging es weiter, indem es in der verbleibenden Spielzeit, etwa 40 Minuten lang, Sprechchöre gab: "Tötet die Albaner, die Brüder der Kroaten!" Albaner wurden mit Leuchtgeschossen und anderen Dingen beworfen. Die weltberühmten serbischen Hooligans zündeten eine Flagge der Nato und Albaniens an, stürmten auf das Fußballfeld und attackierten unsere Spieler. Auch das Sicherheitspersonal attackierte die psychisch und physisch verletzten albanischen Fußballer. Ganz zu schweigen davon, was am Flughafen und woanders passierte.
Wenn Sie die berüchtigte Drohne ansprechen, die von außerhalb des Stadions hereingeflogen kam, würde ich sehr gerne wissen, warum Sie glauben, dass Albanien, Albaner oder ich selbst für dieses Fluggerät oder was immer es war, verantwortlich sein sollte. Das Match fand ja in Serbien statt. Also lag die Sicherheit in der Verantwortung derjenigen, die das Spiel ausgetragen haben. Eine Flagge von "Groß-Albanien" soll gehisst worden sein, wie die Serben behaupten und Medien wiedergeben. Das stimmt überhaupt nicht. Es war eine Ansammlung albanischer Symbole und bekannter historischer Figuren, aber keine derartige albanische Flagge . . .
Sind die Menschen in den relativ jungen Balkanstaaten schon bereit für eine friedliche Kooperation, auch innerhalb der EU?
Ja, zweifelsohne sind wir zur friedlichen Zusammenarbeit bereit! Ich bin bereit dazu. Deshalb hat Albanien Serbien auch nicht auf diese Art geantwortet, weder während des Fußballspiels noch danach, als Serbiens höchste Vertreter eine Sprache verwendeten, die alles andere als europäisch war.
Ist Albaniens EU-Mitgliedschaft mehr eine Priorität der Bevölkerung als eine Priorität der Regierung?
Hier gibt es keine Abweichung zwischen den beiden. Bisher hat es die jedenfalls nicht gegeben.
Sehen Sie eine Gefahr, dass Albanien trotz aller Anstrengungen weiterhin an den Rand gedrängt wird?Selbstverständlich. Denn ich sehe wie viele andere Menschen auch, dass sich die "Gemeinschaft der Hoffnung" zu einer "Gemeinschaft der Angst" gewandelt hat. Die derzeitige EU wird von Ängsten bestimmt, nicht von Hoffnungen und Träumen, und die turbulente Gegenwart absorbiert die Zukunft ihrer selbst, indem aus der EU ein taktischer Player gemacht wird und kein weltweit strategischer Leader. Das kann aber nicht lange anhalten, und eher früher als später wird die Stunde der Wahrheit all jenen in der EU die Augen öffnen, die blind glauben, dass ihre Probleme gelöst werden können, indem sie das fantastischste Projekt in der Geschichte der Menschheit, nämlich die Europäische Union, aufgeben. Mehr Europa, nicht weniger Europa, ist die richtige Antwort auf Europas heutige Herausforderungen.
Manche Mitgliedsländer wie Großbritannien und die Niederlande scheinen Albaniens Weg in die EU skeptisch gegenüberzustehen.
Beide Länder waren letztlich dafür, als Albanien im Juni der Kandidatenstatus zuerkannt wurde. In den Niederlanden habe ich übrigens einen der überzeugtesten Europäer getroffen, Ex-Außenminister Frans Timmermans, den künftigen Vizepräsidenten der neuen EU-Kommission. Was für ein Segen für die Kommission und für alle Europäer, seine Stimme in einer so wichtigen Position zu haben.
Hätten Sie einen Vorschlag für eine positive Schlagzeile über Albanien in den internationalen Medien?
(lacht) Ich danke Ihnen, nach so vielen enttäuschenden und völlig ungerechtfertigten Schlagzeilen über meinen Bruder (der fälschlicherweise beschuldigt wurde, die Drohne beim Fußballmatch gesteuert zu haben, Anm.), der ein weltbekannter nationalistischer Held geworden ist, ohne dass er etwas getan hätte, womit er das verdiente. Ich bin sicher, Sie machen das viel besser. Ich danke Österreich, dass es sich an vorderster Stelle gegen die "Erweiterungsmüdigkeit" starkmacht und die Gefahr der "Geduldsmüdigkeit" so genau versteht.
Edi Rama
Der 50-Jährige ist seit September 2013 Ministerpräsident Albaniens. Von 2000 bis 2011 war er Bürgermeister von Tirana, 2005 wurde er Parteichef der Sozialisten. In den 1990er Jahren lebte der studierte Maler jahrelang als Künstler in Paris.