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EU: Juristischer Irland-Salto ohne Netz

Von Waldemar Hummer

Europaarchiv

Analyse: Wie der EU-Rat den Iren den Vertrag von Lissabon verkaufen will. | Erst bei Beitritt Islands oder Kroatiens wird Manko saniert. | Dublin/Brüssel/Wien.Am 2. Oktober stimmen die Iren ein zweites Mal über den EU-Reformvertrag von Lissabon ab. Nach dem negativen Ausgang des ersten Referendums im Juni 2008 hat der Europäische Rat im Vorfeld des zweiten Zugeständnisse beschlossen, um den Befürwortern auf der Insel den Rücken zu stärken.


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In einem überaus komplexen Prozedere wurden bei der Tagung des Europäischen Rats am 18./19. Juni Konzessionen besichert, die Irland bereits im Dezember 2008 zugesagt worden waren. Nicht nur für die Iren ist dabei interessant, dass nach Inkrafttreten des Reformvertrags ein Beschluss gefasst werden soll, wonach weiterhin jeder einzelne Mitgliedstaat in der EU-Kommission durch eine Person vertreten sein soll.

* Den Schlussfolgerungen des Europäischen Ratsvorsitzes wurde ein eigener Beschluss der EU-Staats- und Regierungschefs angefügt: Demnach beeinträchtigen weder der Vertrag von Lissabon noch der EU-Grundrechtecharta die Artikel 40, 41, 42 und 44 der irischen Verfassung über den Schutz des Rechts auf Leben (Abtreibungsverbot), der Familie und der Rechte in Bezug auf Bildung. Der Reformvertrag bringt auch keinerlei Erweiterung der Steuerhoheit der EU.

* Das zweite Dokument ist eine "Feierliche Erklärung zu den Rechten der Arbeitnehmer, zur Sozialpolitik und zu anderen Angelegenheiten" des Europäischen Rats selbst: Irlands Anliegen wird Rechnung getragen, indem es auf die große Bedeutung von sozialem Fortschritt, Arbeitnehmerrechten und öffentlichen Dienstleistungen für die EU hinweist. Betont wird auch die Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten für die Bereitstellung von Bildungs- und Gesundheitsdiensten sowie die wichtige Rolle und der weite Ermessensspielraum der staatlichen Stellen im Hinblick auf die Organisation von Diensten von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse. Die "Feierliche Erklärung" hebt eine Reihe einschlägiger Bestimmungen der durch den Reformvertrag geänderten Verträge besonders hervor.

* Anlage Nummer drei ist eine "Nationale Erklärung Irlands", in der vor allem betont wird, dass die Teilnahme an der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik die traditionelle irische Politik der militärischen Neutralität unberührt lässt. Irland ist nicht durch eine gegenseitige Beistandspflicht gebunden, die Teilnahme irischer Kontingente an "Petersberg-Maßnahmen" ist nur mit ausdrücklicher Zustimmung von Regierung und Abgeordnetenhaus zulässig.

An mehreren Stellen wird Irlands völlige Freiheit betont, an der "Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit" oder der "Europäischen Verteidigungsagentur" teilzunehmen. Im Falle der Ratifikation des Lissabon-Vertrags durch Irland wird die "Nationale Erklärung Irlands" der Ratifikationsurkunde beigefügt.

Rechtsverbindlich ist nur EU-Ratsbeschluss

Im Gegensatz zur "Feierlichen Erklärung" und der "Nationalen Erklärung Irlands" kommt aus Sicht des Europäischen Rats nur dem ersten Anhang, dem Beschluss, der zugleich mit dem Inkrafttreten des Reformvertrags wirksam werden soll, rechtsverbindlicher Charakter zu. Was der Europäische Rat in diesem Zusammenhang aber (bewusst) verschweigt: Es handelt sich dabei keinesfalls um eine gemeinschaftsrechtliche Verbindlichkeit, da einem Beschluss der im Europäischen Rat vereinigten Staats- und Regierungschefs lediglich völkerrechtlicher Selbstbindungscharakter zukommt. Genau diese - rein völkerrechtliche - Variante wurde schon zur Behebung des ersten irischen "Ratifikationsunfalls" zum Vertrag von Maastricht vom 7. Juni 2001 benützt.

Dass dieser Umstand dem Europäischen Rat bewusst war, geht eindeutig daraus hervor, dass er zugleich angekündigt hat, den Beschluss der Staats- und Regierungschefs zum Zeitpunkt des Abschlusses des nächsten Beitrittsvertrags in ein Protokoll aufzunehmen, das dann sowohl dem EU-Vertrag als auch dem Vertrag über die Arbeitsweise der EU beigefügt werden soll. Das Protokoll müssen alle Mitgliedstaaten ratifizieren - allerdings im Zusammenhang mit einem Beitrittsverfahren und nicht (wie sonst üblich) im Rahmen eines Vertragsnovellierungsverfahrens.

Ein solcher Umgehungsversuch einer Primärrechtsänderung - eben nicht über ein normales Novellierungsverfahren gemäß Artikel 49 des Maastricht-Vertrags, sondern über ein Beitrittsverfahren eines Drittstaates nach Artikel 48 - setzt allerdings voraus, dass es sich um eine "beitrittsbedingte" Änderung des Primärrechts handelt - was in Irlands Fall aber schwer zu argumentieren ist. Ein weiteres Problem: Der nächste geplante EU-Beitritt (Kroatien) wird wegen des noch nicht beigelegten Grenzstreits mit Slowenien keinesfalls vor dem zweiten Referendum in Irland erfolgen. Islands Beitritt wird überhaupt erst für 2012 erwartet. Damit kann den Iren vor ihrem Referendum keine verbindliche, primärrangige europarechtliche Zusage auf Einhaltung der ihnen versprochenen Garantien gemacht werden.

Dazu kommt die Ungewissheit, ob Deutschland das Begleitgesetz zum Zustimmungsgesetz zum Lissabon-Vertrag zeitgerecht abändern kann (siehe Artikel unten).

"Österreichs führender Europarechtler analysiert zwei komplizierte Rechtskonstruktionen, die das Schicksal der EU grundlegend beeinflussen. "