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EU-Kandidat Türkei fragwürdig

Von Susanne Güsten

Europaarchiv

Istanbul - Seit Jahrhunderten drängen die Türken nach Europa, seit Jahrzehnten träumen sie von der EU-Mitgliedschaft. Die Anerkennung der türkischen Kandidatur auf dem EU-Gipfel von Helsinki vor knapp zwei Jahren schien die Erfüllung dieses Traumes in greifbare Nähe zu rücken, doch jetzt könnte er bald schon wieder ausgeträumt sein. Die tiefe Wirtschaftskrise des Landes, das äußerst schleppende Tempo der versprochenen Reformen und vor allem der Streit um die europäische Verteidigungspolitik könnten die erhofften Beitrittsverhandlungen bald zur Fata Morgana werden lassen.


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In den kommenden Monaten wird sich entscheiden, ob eine Zukunft in Europa für die Türkei nur ein Traum bleibt. Selbst der türkische Albtraum einer Aberkennung ihres Kandidatenstatus scheint nicht mehr völlig wirklichkeitsfern.

In Europa ist die Türkei derzeit jedenfalls nicht sonderlich beliebt. Jüngste Umfragen zeigen, dass die Zustimmung zu einer türkischen EU-Mitgliedschaft bei der Bevölkerung auf einen Tiefpunkt gesunken ist. Auch die europäischen Politiker sind auf ihre Kollegen in Ankara nicht gut zu sprechen. Vor allem das unnachgiebige Nein der türkischen Regierung und Militärs zu einem freien Zugriff der geplanten EU-Eingreiftruppe auf die NATO-Infrastruktur hat die Europäer in ihrem Streben nach einer eigenständigen Verteidigungspolitik derart frustriert, dass laut über eine Neubewertung der EU-Beziehungen zur Türkei nachgedacht wird.

Zwar weisen Vertreter der belgischen EU-Präsidentschaft darauf hin, dass es keinen "formellen" Zusammenhang zwischen der türkischen Haltung zur Euro-Eingreiftruppe und ihrer EU-Kandidatur gibt, doch informell wird ein solches Junktim durchaus hergestellt. Auf dem EU-Außenministertreffen im belgischen Genval am 8. und 9. September soll die Frage jedenfalls aufs Tapet gebracht werden.

Menschenrechtsproblematik

Die Türkei selbst hat solchen Erwägungen Vorschub geleistet, indem sie bisher praktisch keine der Reformen verwirklicht hat, auf die sie letztes Jahr mit der EU-Beitrittspartnerschaft verpflichtet wurde. Statt Meinungsfreiheit zu schaffen, Folter zu stoppen und Sprachfreiheit für die Minderheiten herzustellen, hat Ankara eine Gefängnismeuterei blutig niedergeschlagen, eine couragierte Anti-Folter-Politikerin aus dem Amt entfernt und einen Verbotsprozess gegen den führenden Menschenrechtsverein angestrengt. Weil die Jahresfrist für die erste Reformtranche bald abläuft, versucht die Regierung jetzt noch einen Kraftakt: In einer Sondersitzung des eigens aus den Sommerferien zurückgerufenen Parlaments sollen in der zweiten Septemberhälfte 37 Verfassungsänderungen verabschiedet werden, um die demokratiepolitischen Vorgaben der Beitrittspartnerschaft zu erfüllen.

Vor einem Jahr noch hätte dieses Reformpaket als Befreiungsschlag durchgehen können, denn die Änderungen sind tatsächlich tiefgreifend: Presse- und Meinungsfreiheit werden dadurch ausgeweitet, die kurdische Sprache vollständig freigegeben und die Todesstrafe zumindest eingeschränkt. Doch in der derzeit trüben Stimmung und als Hau-Ruck-Aktion unter dem Druck des nahenden Fristablaufs tragen die vorgesehenen Reformen inzwischen das Etikett "zu wenig, zu spät". Ob sie ausreichen werden, um den Tenor des im Oktober erwarteten Fortschrittsberichts der EU-Kommission noch entscheidend aufhellen zu können, ist sehr fraglich. In den ersten Entwürfen zu diesem ersten Fortschrittsbericht seit Abschluss der Beitrittspartnerschaft wird nach Informationen interessierter Kreise jedenfalls kein positiver Ton angeschlagen.

Fatale Wirtschaftskrise

Ihren größten Trumpf in der EU-Erweiterungsdebatte, ihre wirtschaftliche Überlegenheit über manch anderen Beitrittskandidaten, hat die Türkei zuletzt auch verloren. Seit Ausbruch der Krise im Februar ist das Land vom Mittelfeld der Erweiterungskandidaten abgestürzt und dümpelt nun unter den Schlusslichtern herum. Ankara behilft sich zwar mit dem Argument, die Krise habe die notwendigen Wirtschaftsreformen beschleunigt. Doch um diese Sichtweise zu teilen, bedürfte es einer der Türkei äußerst wohlgesonnenen EU-Präsidentschaft - und davon kann derzeit keine Rede sein. Im Gegenteil: Belgien hat sich für seine Amtsperiode vorgenommen, die EU-Eingreiftruppe unter Dach und Fach zu bringen. Weil das vor allem an einem Nachgeben der Türken hängt, fand sich der Brüsseler Außenminister Louis Michel schon in den allerersten Tagen der belgischen Amtsperiode in Ankara ein - wo er sich eine Abfuhr holte.

Blockade der Eurotruppe

Keinen Schritt werde die Türkei in dem Verteidigungsstreit zurückweichen, bekräftigte das türkische Außenministerium erst kürzlich wieder. Die Stellungnahme habe man zur Kenntnis genommen, heißt es in der belgischen Botschaft in Ankara säuerlich. Mit der erhofften Gründung der Euro-Truppe auf dem EU-Gipfel in Laeken im Dezember sieht es also weiter schlecht aus. Dass es in Laeken ganz neue Beschlüsse zur Kandidatur der Türkei geben könnte, will die Botschaft dagegen nicht ausschließen.