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EU-Kommissar Schmit: "Müssen Solidarität als Investition sehen"

Von Walter Hämmerle

Wirtschaft
© adobe stock/Kaesler Media, WZ-Bearbeitung

Der EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte über die Hürden einer Sozialunion.


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Von links betrachtet galt die EU lange als liberales Projekt, das im Namen des Binnenmarkts den Abbau von Handelshürden vorantreibt. Allerdings hat sich die EU längst auch dem Sozialen verschrieben. Ein Gespräch mit Nicolas Schmit, dem EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte.

"Wiener Zeitung": Die Geschichte der EU ist untrennbar mit dem Binnenmarkt verbunden. Die Forderung nach einer Sozialunion wurde zwar schon Anfang der 1970er erhoben, blieb aber lange ein Stiefkind. Wie soll sich das ändern?

Nicolas Schmit: Wenn von einer Sozialunion die Rede ist, dann heißt das nicht ein einheitlicher Sozialstaat; gemeint ist vielmehr eine Union sozialer Staaten. Es wird also keine Vereinheitlichung der gewachsenen nationalen Sozialsysteme geben und ich strebe eine solche auch gar nicht an. Es ist eine Tatsache, dass nun einmal die meisten Sozialleistungen nationalstaatlich gebunden sind.

Was zur Folge hat, dass etliche steuerfinanzierte Sozialleistungen an den Wohnort gebunden sind und nicht in ein anderes Land mitgenommen werden können. Diese Gebundenheit führt dazu, dass die Mobilität in der EU weit hinter der etwa der USA hinterherhinkt.

Ja, aber die EU-Staaten müssen doch alle Bürger gleichbehandeln. Wer in einem Land arbeitet, muss auch die gleichen Leistungen erhalten. Und bei Mobilität müssen wir sicherstellen, dass die Ansprüche, die in einem Land erworben wurden, in ein anderes mitgenommen werden können. Hier gibt es Fortschritte, aber auf dem Weg zu einer Union sozialer Staaten haben wir doch noch einigen Nachholbedarf. Daran arbeiten wir, etwa im Rahmen der Koordinierung der EU-Sozialversicherungssysteme. Es ist Teil der europäischen Grundfreiheiten, dass Menschen auf der Suche nach Arbeit mobil sind. Daher sollten sie, keine Nachteile daraus haben. Eine rein von der Aussicht auf Sozialleistungen getriebene Mobilität ist aber abzulehnen. Zudem muss man wissen, dass bei den Empfehlungen der EU-Kommission soziale Themen mittlerweile stark vertreten sind. Wir zeigen den Staaten nicht nur bei Wettbewerbsfragen Defizite auf, sondern auch im Sozialen. Zentral ist hier der Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit.

Sehr weit ist die EU dabei noch nicht. In Spanien und Griechenland lagen im März bei über 30 Prozent, Italien knapp darunter, auch Frankreich liegt hier über 20 Prozent. Seit der Finanzkrise 2008, die die strukturellen Arbeitsmarktdefizite in den südeuropäischen EU-Staaten offengelegt hat, hat sich die Situation kaum verbessert.

Jein. Es ist einiges geschehen, aber eben nicht genug. Das Problem der Jugendarbeitslosigkeit lässt sich auch nicht allein über die Arbeitsmarktpolitik lösen, dazu braucht es auch eine günstige Konjunktur und die richtige Wirtschaftspolitik. Hier muss jetzt das Wiederaufbaupaket der EU ansetzen, indem es die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik zusammenführt, damit uns nicht die Arbeitslosigkeit nach der Krise weiter davongaloppiert.

Nicolas Schmit, 66, ist EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte; zuvor war der Luxemburger Sozialdemokrat Diplomat und mehrfach Minister. EU 2020 - EC/Centonze

Die Jugendarbeitslosigkeit hat mit den Strukturen des Arbeitsmarkts in den einzelnen Ländern zu tun. Diese begünstigen meist ältere auf Kosten der jüngeren Arbeitnehmer.

Ja, und diese prekären Beschäftigungsverhältnisse vieler Jungen beunruhigen mich sehr. Menschen mit befristeten Arbeitsverträgen sind in der Regel die Allerersten, die in einer Krise ihren Job verlieren. Das zu beheben, wird uns noch massiv beschäftigen. Dazu gehört auch, dass wir von erfolgreichen Modellen lernen, etwa von Österreich mit der dualen Ausbildung. Hier gilt, dass jeder Jugendliche eine Ausbildung erhält. Das müssen wir auf europäischer Ebene fördern.

Die Lehre beruht darauf, dass Unternehmen ihre künftigen Facharbeiter ausbilden. Das ist die Folge einer konsensorientierten Interessenaustragung. Diese Kultur gibt es weder in Italien noch Spanien oder Frankreich. Was kann die EU also tun, außer sich allein auf eine Akademisierung zu konzentrieren?

Ein Hebel ist die Förderung von Digitalisierungsprozessen, die ja alle Arbeitsverhältnisse und Unternehmen beeinflusst. Hier besteht enormer Ausbildungsbedarf. Die von Ihnen angesprochenen Unterschiede sind eine Tatsache, aber wir müssen die Sozialpartnerschaft gerade in den südlichen Ländern verbessern - und hier kann Europa helfen. Die Verhältnisse werden sich nicht von heute auf morgen ändern, aber ich sehe eine wachsende Bereitschaft der Unternehmen auch in den südlichen EU-Staaten, Jugendliche auszubilden, weil das zunehmend nicht mehr nur als Kosten, sondern als Investition in die Zukunft betrachtet wird. Hier muss es auch finanzielle Anreize geben. Demnächst starten wir eine Ausbildungsoffensive, die auch Junge umfasst, die jetzt ihren Job verloren haben.

Sie haben angesprochen, dass die EU-Kommission auch sozialpolitische Empfehlungen ausspricht. Österreich wird regelmäßig ermahnt, sein Pensionssystem zu reformieren. Gerade bei SPÖ und Gewerkschaften kommt das schlecht an.

Ich war ja früher Arbeitsminister in Luxemburg, das ein vergleichbares System hat. Da habe ich ähnliche Empfehlungen erhalten und mir manchmal Fragen über deren Inhalt gestellt. Tatsächlich müssen wir in der Kommission überlegen, wie wir diese Empfehlungen bestmöglich formulieren. Klar ist: Wenn sich die Arbeitsverhältnisse ändern, müssen sich auch die sozialen Sicherungssysteme verändern. Sorgen um die finanzielle Nachhaltigkeit müssen nicht immer zu Leistungskürzungen führen, man kann auch die Basis der Finanzierung ausweiten. In der Vergangenheit ist bei den Bürgern manchmal der Eindruck entstanden, dass da in der EU Menschen von sehr weit weg urteilen - und zwar, ohne die sozialen Realitäten zu kennen. Aber das kann nicht dazu führen, dass jede Veränderung der Sozialsysteme von Mitgliedstaaten abgelehnt wird. Die EU-Kommission hat viel getan, um den Dialog zu stärken und sich vor Ort ein Bild zu machen.

Das war dennoch ein Rüffel für Ihre Behörde.

Nein, das ist kein Rüffel, aber man muss mit Fingerspitzengefühl an diese Probleme herangehen. Der finanzielle Aspekt der Sozialsysteme ist wichtig, aber er ist nicht der einzige. Dies sehen wir gerade jetzt in der Corona-Krise: In der Vergangenheit wurde zu viel Augenmerk auf Effizienz im Gesundheitssystem gelegt, ohne ausreichend darauf zu achten, wie viel an Leistungskraft wir verlieren. Das muss sich wieder ändern. Wir müssen mehr in unsere Sozialsysteme investieren, nicht weniger. Die Veränderungen der Arbeitswelt und Altersstrukturen können nicht einfach ignoriert werden.

Würden Sie zustimmen, dass wir nur unseren Sozialstaat und Wohlstand aufrechterhalten können, wenn die EU weiter eine Exportunion auf dem Weltmarkt ist?

Nur bedingt: Natürlich ist Export wichtig für Europa, aber wir dürfen nicht allein darauf setzen, wir müssen auch auf unsere eigenen Kräfte schauen. Und da kommen wir wieder zum Corona-Wiederaufbaupaket: Nur auf China zu setzen, um aus der Krise herauszuwachsen, wird nicht funktionieren. Das wäre eine gefährliche Strategie. Wir müssen das Potenzial, das in unserem Binnenmarkt steckt, besser ausnutzen. Dazu können wir aber keine Spaltung Europas brauchen, sondern müssen dafür sorgen, dass die EU noch stärker zusammenwächst. Wir müssen Solidarität als wirtschaftliche Investition sehen, weil sie allen nutzt.

Wenn die EU ihr Sozialstaatsmodell umsetzt, bedeutet das dann nicht zwingend hohe Mauern zur Abwehr von unliebsamen Migranten aus Afrika und Nahost?

Auch die höchsten Mauern würden uns hier nicht helfen. Ja, wir wollen die soziale Entwicklung in Europa vorantreiben, aber das darf nicht zur Vernachlässigung unserer Nachbarn führen, weil die das auch nicht zulassen. Wenn wir von Solidarität nach innen sprechen, muss das Hand in Hand mit Solidarität mit den Nachbarn gehen. Sicherheit und Stabilität in Afrika mit seiner Bevölkerungsdynamik ist für die EU äußerst wichtig. Wir müssen diesen Staaten helfen, ihre Wirtschaft so zu organisieren, dass die Menschen eine Perspektive vor Ort haben. Natürlich wird uns das viel Geld kosten, aber daran kommen wir nicht vorbei, ansonsten steuern wir einer konfliktreichen Zukunft entgegen.

Und Sie glauben, beides ist zugleich möglich: Europas Sozialstaat weiter ausbauen und den Menschen in Afrika eine Zukunftsperspektive vor Ort zu ermöglichen?

Das geht. Es hat auch keiner 2008 gefragt, ob man Banken retten kann. Man hat es getan, weil man es musste. Genau so ist das auch mit Europas Investitionen in Afrika. Wir können unseren Wohlstand nicht auf der Armut unserer Nachbarn aufbauen.