Vor dem EU-Sozialgipfel spricht Nicolas Schmit, in der EU-Kommission für Beschäftigung und Soziales zuständig, über die großen sozialen Herausforderungen der Union.
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Zeit zu handeln - so lautet das Motto der portugiesischen EU-Ratspräsidentschaft. Dieses Leitmotiv soll für das Herzstück des sechsmonatigen EU-Vorsitzes gelten - den heutigen EU-Sozialgipfel in Porto. Im Mittelpunkt wird die Frage stehen, wie Europas soziale Dimension gestärkt werden kann, um Herausforderungen wie den Klimawandel zu bewältigen, Arbeitslosigkeit und Armut zu bekämpfen oder Chancengleichheit für alle zu gewährleisten. Grundlage dafür ist der im März vorgestellte Aktionsplan der EU-Kommission, für dessen Umsetzung der Luxemburger Nicolas Schmit in seiner Funktion als EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte zuständig ist.
"Wiener Zeitung": Herr Schmit, wo sehen Sie konkret die größten sozialen Herausforderungen für die Europäische Union?Nicolas Schmit: Die Corona-Pandemie hat nicht nur eine Wirtschaftskrise, sondern auch eine soziale Krise ausgelöst. Sie hat uns deutlich gemacht, wie wichtig soziale Absicherung ist, und muss Bestandteil aller Wiederaufbaumaßnahmen werden. Ich bin optimistisch: Wir sind auf einem guten Weg. Die Krise hat auch den Übergang zu einer grünen und digitalen Wirtschaft beschleunigt. Wir müssen jetzt massiv in Aus- und Weiterbildung investieren, damit die Menschen auf neue Anforderungen und neue Jobs vorbereitet sind. Zusätzlich ist der Wiederaufbau für uns eine Chance, schon länger existierende Herausforderungen wie Kinderarmut, prekäre Arbeit und ungerechte Bezahlung anzupacken.
Wie kann der Aktionsplan beitragen, wachsende Ungleichheit und Armut europaweit wirklich zu überwinden und Arbeit zu garantieren?
Der Aktionsplan enthält drei Kernziele, die wir bis 2030 erreichen wollen: Wir wollen die Beschäftigung erhöhen, dass deutlich mehr Menschen Aus- und Weiterbildungsangebote nutzen, und wir wollen die Armut deutlich reduzieren. Ich erwarte da ein klares Bekenntnis der Regierungen zu diesen Zielen, und ich hoffe, dass sie sich jetzt in Porto formell dazu einigen. Unser Ziel ist, dass die EU-Staaten, deren Ausgangspunkte sehr verschieden sind, nationale Ziele festlegen, die an diese gemeinsamen Ziele heranführen. Daran ließe sich sozialer Fortschritt messen, und die Menschen könnten eine konkrete Verbesserung ihrer sozialen Lage einfordern. Mit einem gemeinsamen Kraftakt können wir soziale Rechte überall in Europa stärken.
Der letzte EU-Sozialgipfel fand im November 2017 in Göteborg statt und führte zur Proklamation der europäischen Säule sozialer Rechte. Viel geschehen ist seither nicht.
Wir sind schon längst dabei, ein soziales Europa auch praktisch umzusetzen. Der Gipfel in Göteborg hat Sozialrechte ganz oben auf unsere Tagesordnung gesetzt, und seitdem liefert Europa. Schon die vorhergehende Kommission unter Jean-Claude Juncker hat neue europäische Regeln zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie und für verlässliche und vorhersehbare Arbeitsbedingungen verabschiedet. Die Entsendungsrichtlinie sieht gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort vor. Die jetzige Kommission hat weitere konkrete Initiativen für die Umsetzung der sozialen Säule auf den Weg gebracht. Die neue Europäische Kompetenzagenda zum Beispiel unterstützt Menschen und Unternehmen ganz gezielt dabei, weitere und bessere Kompetenzen zu entwickeln und sie zu nutzen.
Mit einer Richtlinie über europaweite Mindestlöhne will Portugal die Soziale Marktwirtschaft ausbauen. Nicht alle EU-Länder ziehen mit. Widerstand kommt auch aus Österreich. Ist in Porto eine Einigung zu erzielen?
Arbeit muss gerecht bezahlt werden, und niemand sollte trotz eines Jobs in Armut leben. Dazu kann der Entwurf der Kommission beitragen, der einen Rahmen für europäische Mindestlöhne vorschlägt. Das Europaparlament und die EU-Mitgliedstaaten beraten diesen derzeit intensiv. Beim Sozialgipfel wird die Initiative nicht verhandelt werden. Es geht in Porto nicht um einzelne Maßnahmen, sondern um das große Ganze: ein klares Bekenntnis zum Aktionsplan für ein sozialeres Europa. Ich habe große Hoffnung, dass sich die EU-Regierungen und das Europaparlament bald auf eine gemeinsame Position einigen werden.
Abgesehen vom Mindestlohn: Wo sehen Sie zwischen den EU-Mitgliedstaaten bei den Zielen der Sozialrechte die größten Meinungsverschiedenheiten?
Viele Kernbereiche der Sozialpolitik sind in Europa hauptsächlich Sache der Mitgliedstaaten, und die Ansätze sind unterschiedlich. Für mich zählt, dass am Ende ein gerechtes Wirtschafts- und Sozialsystem, faire Arbeitsbedingungen und gleiche Chancen für alle herauskommen. Unser Ziel muss es sein, eine positive Dynamik zu schaffen, bei der alle Länder ihren Bürgern die bestmögliche soziale Absicherung bieten. Das gemeinsame Projekt für den Wiederaufbau Europas nach der Corona-Krise ist unsere Chance, das zu verwirklichen. Durch wirtschaftliche und soziale Aufwärtskonvergenz wird Europa insgesamt stärker.
Kann der Sozialgipfel wirklich neuen Aufschwung für einen gerechten Wiederaufbau geben?
Das kann er gerade jetzt! Die Corona-Krise hat uns gezeigt, wie wichtig eine starke Sozialpolitik und Solidarität sind. Nach kurzen Anlaufschwierigkeiten haben wir überall in Europa viel Solidarität erlebt. Die Krise hat außerdem viele Trends und Veränderungen beschleunigt, die schon vorher begonnen hatten - zum Beispiel der Umbau zu einer grünen, digitalen Wirtschaft.