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EU-Krise wegen mangelnder Solidarität

Von Peter Hilpold

Gastkommentare

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Ein Kernsatz der europäischen Demokratieerfahrung besagt, dass das auf dem Mehrheitskriterium beruhende politische Entscheidungssystem nicht zu radikalen und letztlich ruinösen Umverteilungsprozessen führt, obwohl die "50 + 1"-Entscheidungsregel gerade das befürchten ließe. Solche Mehrheiten waren bisher nicht zu finden, da die Mehrheit von einer solchen Umverteilung letztlich mehr verlieren als gewinnen würde, wobei diejenigen, die kurzfristig auf der Gewinnerseite stünden, letztlich wohl ebenfalls schlechter aussteigen würden.

Italiens desaströseSozialpolitik

Italiens aktuelle Wirtschaftspolitik scheint diese Erfahrung allerdings in Frage zu stellen. Mit der "100"-Regel (die einen Pensionsanspruch begründet, wenn Lebensalter und Dienstjahre die Zahl 100 erreichen) und der Einführung eines Mindesteinkommens für Mittellose hat die italienische Regierung Maßnahmen beschlossen, die sich das Land schlichtweg nicht leisten kann und die langfristig desaströse Auswirkungen auf die italienische Volkswirtschaft haben dürften.

Die Frühpensionierung nach Maßgabe der "100"-Regel ist nicht nur nicht finanzierbar, sondern sie entzieht der Volkswirtschaft ein wesentliches Produktivitätselement beziehungsweise fördert die Schwarzarbeit. Ebenso stellt das arbeitslose Mindesteinkommen einen Anreiz für Schwarzarbeit dar und ist in gleichem Maße nicht finanzierbar. Schon die Ankündigung dieser Maßnahmen hat zur Erhöhung des Zinsaufschlags auf italienische Staatsanleihen und zu einer Rücknahme der Wachstumsprognosen geführt, womit Italien den mühsam gefundenen Haushaltskompromiss mit der EU nicht mehr wird einhalten können.

Wie konnte es zu derart populistischen Maßnahmen kommen? Entscheidend war das Wahlbündnis der diese Maßnahmen propagierenden Fünf-Sterne-Bewegung mit der betont zuwanderungskritischen Lega. Die Einschränkung der Zuwanderung ist ein - nicht nur in Italien - breit und tief empfundenes Anliegen. Die Lega plädiert für einschneidende Maßnahmen. Beide Gruppierungen, für die jeweils großzügige Sozialmaßnahmen um jeden Preis einerseits und massive Zuwanderungsbeschränkungen sowie eine "Law and Order"-Politik andererseits prioritär sind, haben zusammen eine Regierungsmehrheit und können damit Maßnahmen treffen, die in vielen Bereichen gegen die EU-Ordnung verstoßen.

EU-Fiskalpakt wirdad absurdum geführt

So liegt das prognostizierte Haushaltsdefizit von 2,4 Prozent jenseits jeder EU-Abmachung. Die weiter anwachsende Gesamtverschuldung von gegenwärtig mehr als 133 Prozent des BIP führt nicht nur die Zusagen im Fiskalpakt aus dem Jahr 2012 ad absurdum, der eigentlich schon bei einer Gesamtverschuldung von mehr als 60 Prozent des BIP eine jährliche Reduzierung der Schuldenlast von 0,5 Prozent verlangen würde, sondern ist auch nach vorherrschender Meinung der internationalen Finanzwissenschaft nicht tragfähig. Dies müsste zu einer Umschuldung führen, für die es im Zusammenhang mit einer großen europäischen Volkswirtschaft keine Erfahrungswerte gibt. Das Beispiel Griechenland ist nicht nur extrem abschreckend, was die Wohlfahrtseinbußen für die Bevölkerung anbelangt, sondern auf Italien angesichts völlig unterschiedlicher Größenverhältnisse auch kaum übertragbar.

Mitverantwortung der EU-Staaten für die Misere

Es wäre aber zu einfach, allein mit dem Finger auf Italien zu zeigen. Große Verantwortung für die jetzige Situation dieses Landes trägt auch die EU beziehungsweise genauer gesagt die einzelnen Mitgliedstaaten. Die auf Dublin III aufbauende Gemeinsame Europäische Asylpolitik ist unvollständig geblieben und vermag weder einen wirksamen Schutz der Außengrenzen vor Armut- und Wirtschaftsimmigranten sicherzustellen, noch sind Mechanismen geschaffen worden, um den Staaten an den südlichen Außengrenzen zum Zeitpunkt des unvorhergesehenen Massenzustroms wirksam unter die Arme zu greifen.

An Solidarität gebricht es aber auch auf vielen anderen Ebenen, wobei es weithin an Einsicht in breitere Wirkungszusammenhänge fehlt. So wird in Deutschland selbst in Fachmedien massiv Kritik an der Interventionspolitik der Europäischen Zentralbank geübt und dabei übersehen, dass Deutschland selbst eines der Länder war, die am meisten von dieser Politik profitiert haben. Die fehlende Anpassung der Reallöhne an die Produktivitätsgewinne hat nicht nur innerhalb Deutschland vermögenspolitische Ungleichgewichte geschaffen beziehungsweise verstärkt, sondern auch einen Exportboom ausgelöst, der das Überleben des Euro in Frage stellt und damit auch für Deutschland zumindest auf mittlere Frist keineswegs positiv zu beurteilen ist.

Stabilitätsmechanismenhaben zu spät gegriffen

Hinzu kommt noch, dass die europäischen Stabilitätsmechanismen in Bezug auf Italien viel zu spät gegriffen haben beziehungsweise erst nach der großen Banken- und Fiskalkrise ab 2008 nachgeschärft worden sind. Entsprechende Kontroll- und Interventionsmechanismen über den Stabilitätspakt waren in der Vergangenheit aber schon da - und wurden auf Intervention Deutschlands und Frankreichs 2005 gelockert, nachdem diese Länder in Haushaltsschwierigkeiten geraten waren.

Wenn nicht ein Wirtschaftswunder geschieht, besteht somit die konkrete Gefahr, dass Italien zu einem massiven Problemfall wird. Dessen Ursachen liegen nicht nur, aber zu einem wesentlichen Teil auch in der fehlenden europäischen Solidarität.

Die Entwicklungen in Europa stellen zentrale Paradigmen der politischen Theorie in Frage. Bei näherer Betrachtung zeigen sie aber Grundprobleme der europäischen Integration auf, für deren Lösung alle Mitgliedstaaten verantwortlich sind.

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