Warum Donald Tusks Worte die richtigen waren.
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In seinem Einladungsschreiben zum vergangenen EU-Gipfel vor zwei Wochen stellte Donald Tusk, der Präsident des Europäischen Rates, lakonisch fest: "Das Thema der verpflichtenden Quoten hat sich als hochgradig entzweiend und der Ansatz als ineffektiv erwiesen."
Was lediglich wie eine uninspirierte Zusammenfassung der vergangenen drei Jahre klingt, hat innerhalb der EU und bei Staatschefs heftige Reaktionen ausgelöst. Warum eigentlich?
Werfen wir zuerst einen Blick auf die Fakten: Laut dem 2015 ausgedachten Verteilungsschlüssel sollten, um Griechenland und Italien zu entlasten, insgesamt 160.000 Flüchtlinge in anderen EU-Staaten untergebracht werden. Der oft schwammig gebrauchte Begriff "Flüchtlinge" meinte in diesem Fall: Schutzsuchende aus Syrien, Eritrea und Afghanistan, deren Anträge damals zu etwa 75 Prozent genehmigt wurden. Gut zwei Jahre später stellen wir fest: Von diesen 160.000 haben die anderen EU-Staaten lediglich 23.193 übernommen, das entspricht rund 14,5 Prozent.
Die Slowakei hat vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die Umverteilung (erfolglos) geklagt. Ungarn und Polen haben kategorisch die Aufnahme verweigert.
Die EU-Kommission hat im vergangenen Juni ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Tschechien, Polen und Ungarn eingeleitet, das sogar zu Geldbußen führen kann. Und niemand Geringerer als der EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos bezeichnete Tusks Feststellung als "inakzeptabel" und "antieuropäisch".
Vor diesem Hintergrund schiene es naheliegend, die von Tusk gebrauchten Adjektive "entzweiend" und "ineffektiv" erst einmal als terminologische Volltreffer anzusehen. Doch Ex-Bundeskanzler Christian Kern (Österreich übernahm unter Verweis auf die große Zahl der bereits davor aufgenommenen Flüchtlinge mit 15 Personen von den vertraglich vereinbarten 1953 genau 0,8 Prozent) zeigte sich über die Formulierungen Tusks "unglücklich" und bezeichnete sie als "völlig unverständlich", während die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zwar eingestand, dass das EU-Asylsystem "überhaupt nicht" funktioniere, dem EU-Ratspräsidenten aber gleichzeitig die Propagierung einer "selektiven Solidarität" vorwarf.
Ähnliche seltsame Sager kamen auch von ihren Amtskollegen aus den Visegrád-Staaten. So glaubt Polens neuer Ministerpräsident Mateusz Morawiecki etwa tatsächlich, die Feststellung seines Landsmanns Tusk beweise, dass der polnische Ansatz in der Flüchtlingspolitik "immer mehr" verstanden werde, während sich seine Kollegen aus Ungarn und Tschechen jetzt erst recht darin genügen, auf die Schließung der EU-Außengrenzen zu bestehen.
Dabei offenbaren Tusks Worte eines ganz besonders: Die einen sind ihren eigenen Idealen nicht gewachsen, die anderen wollen allem Anschein weiterhin nicht wahrhaben, dass die sogenannte Migrationskrise vor allem eine Verantwortungskrise ist. Bleibt zu hoffen, dass sowohl die EU als auch die Staatschefs sich als Erstes auf eine gemeinsame Wirklichkeitsbeschreibung in Sachen Migration einigen können. Keine leichte Aufgabe, scheint es.