Von der Notwendigkeit eines erweiterten Sicherheitsbegriffes.
Die neutralen EU-Staaten Finnland, Schweden, Dänemark, Österreich, Irland und Malta werden nicht nur von den Transatlantikern mit Argwohn beobachtet, sondern auch von den Befürwortern einer EU-Verteidigungsgemeinschaft. So kommen in einer neuen Publikation des paneuropäischen Thinktanks "European Council on Foreign Relations" (ECFR) hinsichtlich ihrer Einstellungen zur europäischen Sicherheit Österreich, Irland und Malta am schlechtesten weg, gebrandmarkt als "strategische Schnorrer" der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). Die Diskussion zeigt: Solange EU-Sicherheit in erster Linie als militärische Herausforderung wahrgenommen wird, können die Neutralen nicht mit viel Wohlwollen von klassischen Sicherheitsdenkern rechnen.
Im Juni veröffentlichte der ECFR eine Sammlung von qualitativ hochwertigen, aber sehr kritischen Aufsätzen zur Frage, inwiefern Neutrale oder Staaten mit Ausnahmeregelungen (wie Dänemark) in der GSVP mitmischen und was von ihnen in Zukunft erwartet werden kann. Dabei schenken die Aufsätze vor allem Artikel 42.7 des Lissabonner Vertrages - der GSVP-Beistandspflicht - und seiner Operationalisierung in den vergangenen Jahren spezielle Beachtung, etwa den Auswirkungen der "Irischen Klausel" oder Dänemarks Ausnahmeregelung.
Österreich, Irland und Malta sind die einzigen EU-Mitglieder mit Verfassungsartikeln zur Neutralität. Finnland und Schweden haben den Neutralitätsbegriff nie in ihre Grundgesetze aufgenommen, und auch politisch bezeichnen sich beide nicht mehr als neutral, sondern als bündnisfrei. Sie unterschieden sich dementsprechend durch eine tiefere Integration in die Strukturen der GSVP und eine höhere gesamteuropäische Verteidigungsbereitschaft im Vergleich zu Österreich, Dänemark, Irland und Malta.
Ein "Trittbrettfahrer" inmitten von EU- und Nato-Staaten

Am meisten einzustecken hat Österreich. Gustav Gressel, selber ein Senior Policy Fellow am ECFR und ehemaliger Mitarbeiter des Bundesministeriums für Landesverteidigung, stellt seiner Heimat kein gutes Zeugnis aus. Österreich, ein "lebenslanger Trittbrettfahrer", so der Titel seines Aufsatzes, sei im Kalten Krieg nur durch Glück heil davongekommen und habe dabei eine unselbständige Verteidigungsmentalität internalisiert. Gressel sieht den wichtigsten Faktor für Österreichs Sonderweg denn auch nicht in der Neutralität, sondern im mangelnden Willen zu Verteidigung, der sich in einer kleinen und schwachen Armee ausdrücke.
Die Kapazitäten des Bundesheers seien außer für marginale Einsätze nicht geeignet, um Österreich - oder Europa - im Ernstfall zu schützen: "Egal, welche Verteidigungsambitionen Österreich in Brüssel ankündigen mag, es gibt keine Armee, die im Stande wäre, sie zu erfüllen." Daher erwartet Gressel auch nicht, dass Österreich einer verpflichtenden europäischen Verteidigungsunion zustimmen würde, sollte es je zu einer entsprechenden Abstimmung im Europäischen Rat kommen.
Dies sieht er denn auch als Ausdruck eines "rigiden Isolationismus", der in allen österreichischen Parteien vorherrsche. Die Bekenntnisse aus der Politik zur Vereinbarkeit der österreichischen Neutralität mit dem europäischen Projekt seien Augenwischerei und dienten als Ausrede, um keine größeren Militärausgaben tätigen zu müssen. Der "Trittbrettfahrer" Österreich, so das Fazit, setze lieber auf seine vorteilhafte Lage, umringt von EU- und Nato-Staaten, als auf eigene Kapazitäten.
Die abschließende Analyse der Redakteurinnen fällt pragmatisch aus: Neutrale Staaten könnten nicht Teil eines europäischen Verteidigungsbündnisses sein, "ohne ein Mindesterfordernis der Neutralität zu brechen: die Blockfreiheit". Diskussionen betreffend eine europäische Armee würden in diesem Zusammenhang "gleichermaßen absurd" erscheinen. Interessanterweise offenbart sich an dieser Stelle der normative Grund für die relativ abwertende Beurteilung der EU-Neutralen. In der Konklusion ist zu lesen, dass die Schlüsselfrage sei, "wie die EU ein geschlosseneres und zuverlässigeres Verteidigungsbündnis werden kann - was in der Zukunft notwendig werden könnte".
Wer von Anfang an davon ausgeht, dass eine Verteidigungs- oder Militärunion ein Gebot der Stunde darstellt, ist prädisponiert, die Neutralen dabei als Hemmschuh wahrzunehmen. Diese Bewertung ist einerseits nachvollziehbar, stellt doch die ganze Logik eines Militärbündnisses auf der Prämisse "Einer für alle - alle für einen" ab. Formal und theoretisch betrachtet, sollte neutrale oder bündnisfreie Außenpolitik mit einer Militärallianz inkommensurabel sein. Jedoch sind drei wichtige Punkte zu bedenken.
Allianzen normieren ihre Mitglieder
Einerseits sind Bündnisse nie nur dem Schutz nach außen gewidmet, sondern erfüllen mindestens im gleichen Maße eine Normierung nach innen. So ist auch der Ausspruch des ersten Nato-Generalsekretärs Ismay Hastings zu verstehen, dass der Zweck hinter der Nato bei ihrer Gründung war, "die Russen draußen zu halten, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten".
Vergessen wir darüber hinaus nicht, dass der Warschauer Pakt nie gegen außen angewandt wurde, sondern immer nur nach innen seine eigenen Mitglieder überfallen hat, sobald diese versuchten, sich von der Allianz und vom Kommunismus zu entfernen. Militärallianzen sind zweischneidige Schwerter. Daher ist die Einbindung nicht nur der EU-Neutralen, sondern aller EU-Mitglieder in ein Verteidigungsbündnis jedweder Art notwendigerweise ein Prozess zur Einigung auf einen europäischen Weg betreffend Sicherheit.
Sicherheitsarchitekturen können asymmetrisch sein
Zweitens sind maximalistische Herangehensweisen an Sicherheitsfragen - entweder man ist in einem gleichberechtigten Bündnis, oder man ist draußen - oft nicht das, was schlussendlich die Lösung einer Sicherheitsarchitektur herbeiführt. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind Japan und die USA die engsten transpazifischen Verteidigungspartner mit einem asymmetrischen Sicherheitsdeal: Die USA sicherten vertraglich den Schutz des japanischen Archipels zu, im Gegenzug für Militärstützpunkte darauf. Bis 2015 bekannte sich Japan nicht zur gegenteiligen Verpflichtung, also der Verteidigung der USA und ihrer Militäranlagen.
Dieser sicherheitstechnische "Große Tauschhandel" hat Japan erlaubt, nach dem Krieg in Windeseile seine industriellen Kapazitäten zurückzugewinnen, weil sich die Militärausgaben auf ein Minimum beschränkten. Auch für die USA hatte ihr "unsinkbarer Flugzeugträger" im Pazifik viele Vorteile. In der realen Welt müssen Sicherheitsabkommen also nicht symmetrisch sein, um zu funktionieren.
Das beste Beispiel auf dieser Seite Eurasiens ist Weißrussland, das wie Irland, Malta und Österreich auch einen Neutralitätsartikel in seiner Verfassung stehen hat, obwohl es in einer engen Wirtschafts- und Verteidigungsunion (dem sogenannten Unionsstaat) mit Russland steckt. Die Weißrussen sprechen in diesem Zusammenhang auch häufig von einer "De-facto-Neutralität". Während des Höhepunkts des Ukraine-Konflikts trat Weißrussland als Vermittler auf und versuchte, durch die Minsk-Dialoge ein Finnland-ähnliches Profil zu erlangen. Insofern man Finnland, Irland, Malta, Österreich und Schweden als EU-Neutrale bezeichnen darf, kann man von Weißrussland und bis zu einem gewissen Grad auch von Moldau als Russlands Neutralen sprechen (ohne damit einen Integrationsprozess zu meinen).
Sicherheit ist nicht gleich Verteidigung
Zu guter Letzt gilt es zu klären, was denn Sicherheit eigentlich ist und ob sie nur auf militärischem Weg zu bewerkstelligen ist. Wenn ja, haben die Neutralen zweifelsohne einen schweren Stand. Vergegenwärtigen wir uns aber, dass Militärbündnisse eigentlich wie Versicherungen funktionieren (man schließt sie ab, aber man will sie eigentlich nie brauchen), dann sollte doch klar sein, dass Neutrale zur Sicherung des Friedens in Europa viel beizutragen haben.
Die OSZE ist in großem Maße auf die Initiativen und das diplomatische Agieren Finnlands, Österreichs, der Schweiz und auch Ex-Jugoslawiens zurückzuführen, und es ist kein Zufall, dass der Atomdeal mit dem Iran in Wien verhandelt wurde, während sich US-Präsident Joe Biden und Russlands Präsident Wladimir Putin in der Schweiz zu Annäherungen trafen. Darüber hinaus erfüllen Neutrale durchaus auch "harte" sicherheitstechnische Funktionen als Puffer, die das Sicherheitsdilemma entschärfen. Im Kalten Krieg verpflichtete ein Sicherheitsabkommen Finnland zur Verteidigung der Sowjetunion, hätte ein Feind den Weg durch sein Gebiet nehmen wollen. Finnlands Langzeit-Präsident Urho Kekkonen sagte einst über die Neutralität, sie diene dazu, den Bündnisfall nie eintreten zu lassen.
Als diplomatische Außenposten und geopolitische Puffer können Neutrale auf eine Weise zur Sicherheit Europas beitragen, die Bündnisstaaten per se nicht möglich ist. Man kann sie als "militärstrategische Schnorrer" verstehen, die sich allerdings durchaus diplomatisch und humanitär dafür revanchieren. Man halte sich nur vor Augen, welch unheimliches Sicherheitsrisiko für die EU ein US/Nato-Krieg mit dem Iran wäre und wie wertvoll es ist, dass die EU durch Österreich den diplomatischen Boden für dessen Verhinderung zu liefern vermag.
Sicherheit darf nicht nur als rein militärische Frage verstanden werden, sondern ist weiter zu fassen. Generell sollte die Sicherheitsfrage der EU nicht als der Verteidigungsfähigkeit untergeordnet betrachtet werden, sondern umgekehrt sollten Verteidigungsfragen als Teil der gesamteuropäischen Sicherheit zur Diskussion stehen. In diesem größeren Rahmen lassen sich denn auch die strukturellen Beiträge der Neutralen betrachten, die man strategisch für die Sicherheit Europas einsetzen kann.