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EU-Parlament in Bewährungsphase

Von Wolfgang Tucek

Europaarchiv

Erste Machtprobe: Anhörungen der Kommissare. | Weichenstellung für künftige EU-Arbeitsweise. | 18 Phantom-Abgeordnete bis zum Sommer. | Jeden Monat müssen die 754 EU-Abgeordneten übersiedeln. Samt ihren Assistenten, ein paar tausend Beamten und mehreren Lkws voller Akten fahren sie für eine Woche knapp tausend Kilometer von Brüssel nach Straßburg. Dort ist der offizielle Hauptsitz jener EU-Institution, deren Mitglieder als Einzige direkt als solche gewählt werden.


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Die Entscheidung für das Städtchen im Elsass hatte einst den nachvollziehbaren Grund, den Frieden zwischen Deutschland und Frankreich nach den Weltkriegen zu unterstreichen. Heute ist es freilich vor allem ein Wirtschaftsfaktor für Straßburg, der so fest im EU-Recht verankert ist, dass er nur einstimmig wieder entfernt werden kann. Dass der französische Präsident Nicolas Sarkozy oder einer seiner Nachfolger der Aufgabe des Straßburger Parlamentssitzes jemals zustimmen wird, gilt als völlig ausgeschlossen - auch wenn der ÖVP-Delegationsleiter Ernst Strasser keine Gelegenheit auslässt, seine Abscheu gegen die Elsässer EU-Parlamentsräumlichkeiten auszudrücken. Dieser Brauch wird sich also auch unter dem Lissabonner Vertrag nicht ändern, der seit Anfang Dezember die neue Rechtsgrundlage für die EU darstellt. Dem EU-Parlament weist sie deutlich weiterreichende Kompetenzen als bisher zu. Vor allem in den Bereichen Justiz- und Polizeizusammenarbeit sowie Landwirtschaft werden die EU-Abgeordneten künftig ein gewichtiges Wörtchen mitreden. Im kommenden Jahr müssen sie die Weichen für das neue Selbstverständnis ihrer aufgewerteten Institution stellen. Spannend wird es gleich zu Beginn des neuen Jahres: Schon ab 11. Jänner werden nämlich die zuständigen Parlamentssausschüsse die neuen EU-Kommissare auf Herz und Nieren prüfen. In dreistündigen Anhörungen gilt es, den Parlamentariern Rede und Antwort zu stehen. Der bisherige österreichische Wissenschaftsminister und designierte EU-Kommissar für Regionalpolitik, Johannes Hahn, muss dies am 14. Jänner tun.

Und im EU-Parlament liegt die Latte recht hoch: Schon ohne die umfangreichen Lissabonner Rechte hat es vor fünf Jahren die EU-Karriere zweier Kandidaten beendet, bevor sie überhaupt begonnen hat. So musste der Italiener Rocco Buttiglione wieder nach Hause fahren, nachdem er mit seinen eigenartigen Ansichten über Frauen und Schwule für Verstörung gesorgt hatte. Die lettische Bewerberin Ingrida Udre konnte Vorwürfe zu Verwicklungen in eine Korruptionsaffäre nicht ausreichend entkräften. Manche Abgeordnete sehen die Durchfallquote von damals als Messlatte. Zumindest wieder zwei Namen müssten von der vorläufigen Kommissarsliste gestrichen werden, um der neuen parlamentarischen Macht Nachdruck zu verleihen, finden sie. Wenig Freude sollen Teile der größten Fraktion, der Europäischen Volkspartei (EVP), mit der Auswahl der neuen EU-Außenministerin Catherine Ashton haben. Die ehemalige britische Bildungsstaatssekretärin und Kurzzeit-Handelskommissarin kann bisher auf so gut wie keine Erfahrung in der Außenpolitik verweisen und hat bei all ihren bisherigen Auftritten erklärt, sie sei gekommen, um zuzuhören.

Spätestens vor dem außenpolitischen Ausschuss am 11. Jänner dürfte sie damit nicht mehr durchkommen. Hannes Swoboda, Vizepräsident der sozialdemokratischen Fraktion, fürchtet bereits eine "Schmutzkübelkampagne" gegen die Labour-Politikerin. Umgekehrt könnte der deutsche Kandidat Günther Oettinger, der Energiekommissar werden soll, ins Visier der Sozialdemokraten geraten. Der langjährige CDU-Ministerpräsident von Baden-Württemberg muss nun fleißig Englisch büffeln, um keinen heillos provinziellen Eindruck vor den Parlamentariern zu erwecken. Auch der parteilose rumänische Landwirtschaftskommissar Dacian Ciolos galt lange als farblos. Vor allem, dass Rumänien schon grobe Schwierigkeiten bei der Verwaltung der EU-Vorbeitrittshilfen hatte, wurde nicht unbedingt als Qualifikationsbonus für einen Rumänen an der Spitze des mehr als 50 Milliarden Euro pro Jahr schweren EU-Agrarressorts gesehen. Der österreichische Spezialist und künftige Kabinettschef Ciolos’, Georg Häusler, bereitet ihn derzeit intensiv auf die Befragung durch den Agrarausschuss am 15. Jänner vor.

Fertig soll die Kommission Anfang Februar sein. Dann wird sich weisen, in welche Richtung sich die Alltagsarbeit bei der EU-Gesetzgebung auf Basis der neuen Rechtsgrundlage entwickeln wird. Ziel des Lissabonner Vertrags ist unter anderem eine effizientere Entscheidungsfindung. Das soll vor allem dadurch ermöglicht werden, dass die Vetomöglichkeit von Mitgliedsländern wegfällt. Dafür dürfen die EU-Abgeordneten mitreden, was freilich wiederum Potential für Verzögerungen birgt. Vorteile bringt das neue System jedenfalls im Justiz- und Innenbereich, wo Justament-Positionen einzelner EU-Länder Gesetzesprojekte dauerhaft blockierten. Etwa bei den Bestrebungen für gemeinsame Ehescheidungsregeln waren die Extremstandpunkte der Schweden und Malteser schlicht unvereinbar. Erstere können sich unkompliziert innerhalb weniger Wochen trennen, in Malta ist Scheidung im Gesetz nicht vorgesehen. Zudem ging der Trend im EU-Parlament zuletzt zur sogenannten schnellen Einigung in erster Lesung. Das bedeutet, dass nur eine Handvoll Abgeordneter im Namen der großen Fraktionen Kompromisstexte für geplante Gesetze mit den Vertretern der Mitgliedstaaten aushandeln.

In den Ausschüssen und im Plenum folgen die Parlamentarier dann den Vorgaben ihrer Verhandler. Das hat vor allem bei jenen Richtlinien gut funktioniert, die im Fahrwasser der Finanz- und Wirtschaftskrise durchgepaukt wurden - etwa neue Mindesteigenkapitalanforderungen für Banken, die unter Federführung des ÖVPAbgeordneten Othmar Karas ausgearbeitet worden waren. Ganz oben auf der aktuellen Agenda stehen noch die Regulierung von Hedgefonds sowie die Finalisierung eines neuen Systems für die Finanzmarktaufsicht in der EU. Die schnelle Einigung in erster Lesung ist zwar effizient, doch geht sie ein wenig zu Lasten eines anderen Ziels des Lissabonner Vertrags. Der will die Entscheidungen nämlich auch demokratischer machen. Bisher galt der Richtwert, dass rund 90 Prozent der Gesetze im EU-Parlament abgeändert werden. Im österreichischen Nationalrat werden dagegen 90 Prozent per Regierungsmehrheit durchgewunken. Ob sich daher das Schnellverfahren in Zukunft durchsetzen kann, ist offen. Effizienz allein könne nicht das einzige Argument sein, meinen Experten. Denn die effizientesten Entscheidungen seien jene eines Diktators. Dafür könne es freilich leicht sein, dass sich die Beschlüsse nachher als weltfremd oder schwer umsetzbar erweisen. Das verhindern zu können ist eine große Stärke des EU-Parlaments. Weil es so stark im Fokus von Lobbyisten aller Seiten ist, können die Abgeordneten ein Sensorium für Prioritäten entwickeln. Beispiele für zentrale Projekte, bei denen die Abgeordneten den Weg zu einer Lösung gewiesen haben, waren in den letzten fünf Jahren vor allem die Dienstleistungsrichtlinie und die Chemikalienverordnung Reach. Megaprojekt für die kommende Amtszeit ist etwa die komplette Reform des EU-Verbraucherrechts.

Einen Schub für das Selbstvertrauen des Parlaments dürfte auch die umfassendere Budgethoheit unter dem neuen Vertrag haben, die sich allein schon durch das Mitspracherecht in der Agrarpolitik manifestiert. Manche Diplomaten halten dies für eine große Fehlentwicklung. Die Mitgliedstaaten bezahlen, die EU-Abgeordneten bestimmen, murren sie. Noch dürfen aber nicht alle 754 Abgeordneten auch tatsächlich ihrer Arbeit nachgehen. Gewählt wurden letzten Juni nach dem Vertrag von Nizza nämlich nur 736. Die 18 zusätzlichen, die im Jänner ihren Dienst antreten, dürfen vorerst nur zuschauen. Bis sie ihre vollen Rechte erhalten, muss der Lissabonner Vertrag noch per Extra-Protokoll angepasst werden. Er sieht nämlich nur 751 Abgeordnete und maximal 96 pro Land vor. Laut Nizza hat Deutschland jedoch 99; die drei überschüssigen sollen bis 2014 weiter im Amt bleiben, was die gesetzliche Anpassung erforderlich macht. Das nötige Protokoll sollen alle 27 Mitgliedstaaten im Sommer ratifizieren. Das erste Mal nach Straßburg dürfen die neuen Phantom-Abgeordneten schon am 18. Jänner mitfahren. Österreicher wird es um zwei mehr als bisher geben und damit 19. Einer der neuen Sitze geht an die SPÖ, der andere ans BZÖ.