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Die EU wird in neue Verhandlungen mit Russland eintreten - Zeit, um sich die strategischen Gegebenheiten und Absichten des Verhandlungspartners bewusst zu machen.
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"Starker Staat nach innen und nach außen" hat seit Peter dem Großen eine fast ungebrochene Tradition, nur von kurzen Schwächeperioden unterbrochen, deren letzte von der Endphase der Sowjetunion bis zum Ende der Ära Boris Jelzins reichte.
Seit der Auflösung der Sowjetunion herrschten in Russland staatliche und soziale Auflösungserscheinungen, die unter unglaublicher Schwächung des vorher übermächtigen Staates zur Anhäufung größten Reichtums bei Einzelpersonen und damit zur Entstehung neuer Machtzentren führte, die den Gesamtstaat, vor allem die Regionen, wesentlich beeinflussen konnten. Die Notlage breiter Bevölkerungsschichten untergrub die Legitimation des Staates zusätzlich.
Der Zerfall der Sowjetunion, die triste wirtschaftliche Lage und der Verlust der Verbündeten schwächten den Staat nach außen und machten aus der Supermacht binnen kurzer Zeit einen taumelnden kraftlosen Riesen. Mit Wladimir Putins Amtsantritt begann sich das Blatt zu wenden. Als ehemaliger Angehöriger einer intellektuellen Eliteorganisation, die der KGB trotz aller moralischen Fragwürdigkeit war, verfügte er über Einsichten in Funktionsweisen des Staates auf nationaler und internationaler Ebene.
Putin wurde der Stratege der Trendumkehr: Nicht der alte KP-Staat sollte wiederbelebt werden, sondern der starke Staat neu geschaffen werden. Die Regionalgouverneure verloren ihre Machtstellung, die "Oligarchen" wurden in ihrem Anspruch auf Dominanz im Staat in alter KGB-Tradition brutal gebremst (siehe Michail Chodorkowski). Machtansammlung neben dem staatlichen Zentrum wurde damit unterbunden; all das unter dem Deckmantel einer formal anscheinend funktionierenden Demokratie.
Der nicht verhinderbaren außenpolitischen Schwächung wurde eine Langzeitstrategie entgegengesetzt: Jeder Schwachpunkt wird sofort genützt (Michail Saakaschwili war heuer ein Paradebeispiel, der drohende Umgang mit der Ukraine ein weiteres). Neue Freunde werden gepflegt (Venezuela). Barack Obama erhält als Einstandsgeschenk Raketen in Kaliningrad. Der Energieexport tut sein Übriges zur Positionsstärkung. Auch Preiseinbrüche bedrohen die Stärkeposition eines Öl- und Gasexporteurs nicht - sie ändern nur die innenpolitische Umsetzung der Exporterfolge. Die Finanzkrise betrifft alle Welt, sie schwächt daher die Langzeitstrategie nicht.
Die EU wird gut beraten sein, sich in den bevorstehenden Verhandlungen, die Europas Gesamtsituation für lange Zeit gestalten werden, auf ein strategisch planendes, über die Tagespolitik hinausblickendes Gegenüber einzustellen, dessen einziges Ziel die Stärkung des russischen Staates und seiner politischen Elite ist.
Rudolf Teltscher studierte Philosophie, Psychologie und Anthropologie und berät Unternehmen in Russland und der Slowakei.