Kommission leitet Strafverfahren wegen umstrittener Justizreform ein.
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Brüssel/Warschau/Wien. Monatelang zögerte die EU-Kommission. Denn der Schritt, den sie überlegte, ist nie zuvor gesetzt worden. Die Einleitung des Artikels 7 der EU-Verträge, eines Verfahrens wegen der Verletzung von Grundrechten, ist erst seit einigen Jahren möglich. Immer wieder stand das im Raum, als die ungarische Regierung umstrittene Gesetzesänderungen durchsetzen wollte. Doch dann wusste Ministerpräsident Viktor Orban es durch - meist minimales - Einlenken zu verhindern.
Das nationalkonservative Kabinett in Warschau hingegen verbietet sich seit zwei Jahren Kritik der EU. So lange schwelt schon der Streit um eine Justizreform, die größere politische Einflussnahme auf die Gerichte ermöglichen würde. Ein Verfahren zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit in Polen hatte die Kommission bereits gestartet. Nun geht sie einen Schritt weiter und aktiviert Artikel 7.
Sie tue es "schweren Herzens", erklärte der Vizepräsident der Brüsseler Behörde, Frans Timmermans. Doch die Fakten hätten ihm keine Wahl gelassen. Dreimal hätte die Kommission Empfehlungen an die Behörden in Warschau geschickt, hätte immer wieder um Treffen und Gespräche ersucht. Doch die Forderungen aus Brüssel blieben ungehört; das Parlament in Warschau, in dem die Regierungspartei PiS (Recht und Gerechtigkeit) eine knappe absolute Mehrheit hält, segnete die Gesetzesentwürfe ab.
Damit hat sich das Abgeordnetenhaus unter anderem die Vollmacht über die Besetzung des Obersten Gerichtshofes gesichert. Außerdem sollen die Mandatare ermächtigt werden, die meisten Mitglieder des Landesjustizrates zu bestimmen. Vor dem Verfassungsgericht machen die Änderungen ebenfalls nicht halt: Die Richter dort sollen früher in Pension gehen müssen - womit ein großer Teil von ihnen seinen Posten aufgeben müsste.
22 von 27 Mitgliedern müssen Vorwurf bestätigen
Die EU-Kommission sieht die Unabhängigkeit der Gerichte und die Gewaltenteilung in Polen gefährdet. Sie gibt der Regierung in Warschau nun drei Monate Zeit, die Mängel zu beheben. Andernfalls können die anderen Mitgliedstaaten die "eindeutige Gefahr" einer "schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung" der EU-Werte feststellen. Denn jetzt sind die Staaten an der Reihe: 22 von 27 müssten die Vorwürfe der Kommission als richtig befinden - Polen ist bei dem Votum nicht dabei. Danach steht noch die Entscheidung an, ob die Werte der EU "dauerhaft" verletzt werden.
Für diese Stufe sind die Hürden höher. Dem müssten nämlich alle 27 Mitglieder zustimmen. Ungarn hat aber immer wieder klargemacht, dass es ein Veto gegen solch eine Maßnahme einlegen würde.
Erst nach dieser Abstimmung können Sanktionen verhängt werden, die bis zum Entzug von Stimmrechten bei EU-Ministersitzungen reichen. Diese wären mit qualifizierter Mehrheit zu beschließen, also mit den Stimmen von 20 Staaten, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren.
Timmermans argumentierte, dass es dabei nicht allein um Polen gehe. Der Fall betreffe die gesamte EU. Die Kommission, die ihre Rolle als Hüterin der Verträge betont, habe die Verantwortung, auf die Einhaltung von Grundwerten in der Gemeinschaft zu achten.
Staatspräsident unterschreibt Gesetzesentwürfe
Dass diese in Polen verletzt werden, weist sowohl der neue Premier Mateusz Morawiecki als auch Justizminister Zbigniew Ziobro zurück. Die Entscheidung der EU-Kommission nehme er gelassen hin, meinte Ziobro: Brüssel gehe es um Politik, nicht um Rechtsstaatlichkeit. Morawiecki wiederum wird Anfang Jänner des kommenden Jahres zu einem Treffen mit Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker reisen.
Gleichzeitig verteidigte der Premier die Justizreform, die aus PiS-Sicht das System effizienter machen soll. Parteivorsitzender Jaroslaw Kaczynski argumentiert damit, dass die Gerichte von alten Seilschaften, noch aus sozialistischen Zeiten, befreit werden müssten.
Auch Staatspräsident Andrzej Duda spricht von einer "Demokratisierung des Landes". Der Politiker, der ebenfalls aus den PiS-Reihen kommt, kündigte schon an, die ihm zur Unterschrift vorgelegten Gesetzesentwürfe abzusegnen. Im Sommer hatte er noch Teile davon abgelehnt, was Hoffnungen von Regierungskritikern nährte, dass die Reform doch noch korrigiert werden könnte. Diese Perspektive besteht nun nicht mehr. Oppositionspolitiker bezeichneten die Ankündigung Dudas daher als "fatales Signal" und "Provokation".