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EU-Verfassung stärkt Regionen

Von Franz Schausberger

Europaarchiv

Das Schlagwort vom "Europa der Regionen" geistert schon lange durch die Europäische Union. In Festansprachen und Sonntagsreden wird es gerne strapaziert. Die entscheidende Frage aber ist: Hat die fortschreitende europäische Integration auch in der Praxis zur Dezentralisierung, zur Regionalisierung und zur Stärkung der Regionen geführt? Aktualisiert wurde dieses Thema durch den Beitritt neuer Staaten am 1. Mai 2004, die nach jahrzehntelanger zentralistischer Herrschaft des Kommunismus praktisch keine Erfahrung mit föderalistischen Strukturen haben, und durch die Unterzeichung des EU-Verfassungsvertrages durch die Staats- und Regierungschefs am Freitag in Rom, die von scharfen Sicherheitsmaßnahmen begleitet wird.


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Am 18. Juni 2004 haben die Staats- und Regierungschefs der 25 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union den Vertrag über eine Verfassung für Europa angenommen. Bei der Erstellung des Verfassungsentwurfes durch den Konvent hatten die Vertreter der Regionen und der Kommunen die Gelegenheit, regionale und kommunale Anliegen in die Beratungen einzubringen und konnten beträchtliche Erfolge erzielen.

Schließlich war es eine der zentralen Aufgabenstellungen des EU-Konvents, die Grundlagen für mehr Bürgernähe in Europa zu schaffen, was ohne die regionale und lokale Ebene sicher nicht möglich ist. Denn keine demokratisch legitimierte Ebene in Europa steht dem Bürger näher als die Regionen und Gemeinden.

Neben dem Europäischen Parlament, das zahlreiche neue Befugnisse erhält, können die Regionen und die kommunalen Gebietskörperschaften als Gewinner der Verfassungsdiskussion angesehen werden. So stellt der Verfassungsvertrag einen bemerkenswerten Durchbruch für Regionen und Kommunen dar. Zum ersten Mal werden in einem grundlegenden EU-Vertrag ausdrücklich die Prinzipien der kommunalen und regionalen Selbstverwaltung als Grundsätze der Union genannt.

Rolle der Regionen ist nationale Angelegenheit

Die Europäische Verfassung anerkennt erstmals diese Selbstverwaltung als Ausdruck der nationalen Identität der Mitgliedsstaaten. Das bedeutet, dass der Union jeder Eingriff in die politische und verfassungsrechtliche Struktur ihrer Mitgliedsstaaten verwehrt ist. Die Rolle der Regionen und der Kommunen, ihre innerstaatliche Stellung und ihre Zuständigkeiten sind ausschließlich Sache des jeweiligen Mitgliedsstaates selbst.

Der Verfassungsentwurf definiert endlich klarer die Zuständigkeiten auf der Basis des Subsidiaritätsprinzips. Die EU-Kommission ist in Hinkunft verpflichtet, bei ihren Maßnahmen und Rechtsvorschriften die Auswirkungen auf die Mitgliedsstaaten und Regionen zu berücksichtigen. Die finanzielle Belastung und der Verwaltungsaufwand der Union gegenüber den Regierungen der Mitgliedsstaaten, der Regionen und Kommunen ist so gering wie möglich zu halten.

Durch das Subsidiaritätsprinzip wird der Union - in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen - eine Grenze gesetzt. In die Zuständigkeit der EU fällt etwas dann, wenn es auf Unionsebene besser erreicht werden kann und wenn Mitgliedsstaaten, Regionen oder Kommunen diese Ziele nicht ausreichend erreichen können. Hier sind in Hinkunft die Regionen und Kommunen besonders gefordert, den Nachweis zu erbringen, dass sie in der Lage sind, eine Zuständigkeit zu erfüllen.

Frühwarnsystem gegen überflüssige Regelungen

Eingeführt wird ein sogenanntes "Frühwarnsystem", mit dem Verletzungen der beiden Prinzipien "Subsidiarität" und "Verhältnismäßigkeit" durch überflüssige oder unnötig schikanöse Regelungen aus Brüssel verhindert werden sollen. Der Ausschuss der Regionen (AdR) erhält nun endlich das lange geforderte Klagerecht vor dem Europäischen Gerichtshof bei Verletzungen des Subsidiaritätsprinzips.

Den Regionen und Kommunen wird nach der neuen EU-Verfassung also eine verstärkte Bedeutung im europäischen Handeln zukommen. Daher sollte - wie der Ausschuss der Regionen bei seiner jüngsten Zusammenkunft in Prag eindeutig feststellte - alles getan werden, dass diese Verfassung nun in den Mitgliedsstaaten der EU ratifiziert wird, damit sie wie vorgesehen am 1. November 2006 in Kraft treten kann.

Europaweiter Trend zu mehr Selbstverwaltung

Wie aber schaut es in der Praxis mit dem Fortschritt für die Dezentralisierung und Regionalisierung in Europa aus?

Zweifellos ist eine reale, dynamische Tendenz zur regionalen Entwicklung der Mitgliedsstaaten zu beobachten. Diese Entwicklung entspricht den Erfordernissen des europäischen Integrationsprozesses sowie der Wirtschafts-, Kultur- und Sozialpolitik auf lokaler und regionaler Ebene.

Seit einigen Jahren gibt es in Europa zunehmend Bestrebungen zur Stärkung der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung etwa durch Verfassungsänderungen - und zwar auch in Ländern, die bei der Dezentralisierung bisher besonders langsam und zögernd vorangeschritten sind. In den letzten sechs Jahren wurden derartige Verfassungsänderungen immerhin in rund dreißig Staaten vorgenommen.

In mitteleuropäischen Ländern mit starken föderalen Traditionen wie Österreich und Deutschland machen die bundesstaatlichen Einrichtungen derzeit einen Diskussionsprozess durch: Die neuen Herausforderungen der europäischen Integration und die gegenwärtig schwache Weltkonjunktur leiteten einen Reformprozess zur Modernisierung der zentralstaatlichen Verwaltungen ein. In Österreich soll im Rahmen eines Konvents eine neue Verfassung erarbeitet werden und in Deutschland werden Vorschläge für eine Neugestaltung des Grundgesetzes diskutiert. Das Ziel dieser Bestrebungen ist es, die Beziehungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen neu zu definieren und die Bundesverwaltung zu reformieren.

In Belgien gibt es Bemühungen, die regionale Regierungsebene zu festigen und weiterzuentwickeln, etwa durch die jüngst erfolgte Übertragung der Zuständigkeiten für die Gemeinden auf die Regionen.

In Ländern mit gefestigten regionalen Traditionen wie Spanien erheben die Regionen Forderungen, die auf die Ausdehnung der regionalen Autonomie abzielen, die durch eine in der spanischen Verfassung anerkannte Asymmetrie zwischen Nationalitäten und Regionen charakterisiert ist. Die Zentralregierung hat angekündigt, aus dem Senat eine echte Kammer zur Vertretung der autonomen Gemeinschaften zu machen.

Italien befindet sich im Übergang zu einem noch nicht genau definierten Föderalismus, die zentralstaatliche Regierung und die erstarkten regionalen Gebietskörperschaften sind auf der Suche nach einem gemeinsamen Weg. Jedenfalls wird eine Stärkung der regionalen Zuständigkeiten angestrebt, die Präsidenten der Regionen werden seit einer Verfassungsrevision direkt gewählt. Beabsichtigt ist auch die Schaffung einer zweiten Kammer, die als Ländervertretung gedacht ist.

Der dynamische Dezentralisierungsprozess in Großbritannien führt zu recht unterschiedlichen Formen der von der Zentralregierung gewährten Autonomie. Die im Jahr 2002 begonnene Regionalisierungsbewegung hat die Schaffung von acht regionalen Gebietseinheiten zum Ziel.

Überraschend ist der Verfassungsreformprozess in Ländern wie Frankreich, die über eine lange einheitsstaatliche Tradition verfügen, wo plötzlich die Dezentralisierung und das Subsidiaritätsprinzip zu tragenden Säulen des Staatsaufbaus werden. Frankreich verfügt nun auch über stärkere, durch Wahlen legitimierte regionale Gemeinschaften.

Ansätze eines aufkeimenden Regionalismus lassen sich auch in Portugal feststellen, das traditionell über starke lokale Institutionen verfügt. In Finnland, das bis dahin nur die kommunale Selbstverwaltung kannte, war der Beitritt zur EU der Auslöser einer - wenn auch unvollständigen - Regionalisierung. Ähnliches gilt für Schweden.

Die europäische Integration gab auch in Polen den Anstoß zur Neuordnung der subnationalen Regierungs- und Verwaltungsebenen. Die Wiederherstellung der lokalen Strukturen und der Dezentralisierung der Verwaltung fanden zeitgleich mit dem Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen Anfang der 90er Jahre statt. Inzwischen gibt es 16 Wojwodschaften, an deren Spitze jeweils ein vom Regionalparlament gewählter Marschall mit seiner fünfköpfigen Landesregierung steht. Der Landtag wird durch eigene Wahlen gewählt.

Andere Staaten wie Ungarn, Estland, Lettland und Litauen planen die Schaffung regionaler Strukturen. In Ungarn sind es 19 selbstverwaltete Komitate mit einem Regionalrat, der den Komitatspräsidenten wählt.

In Tschechien wurden seit 2002 insgesamt 14 Regionen (kraje) gegründet, die über eine eigene gewählte Regionalversammlung verfügen, die wiederum die Regionalregierung mit einem Landeshauptmann (Hejtman) an der Spitze wählen. Im Dezember 2001 wurden in der Slowakei acht selbstverwaltete Regionen geschaffen, an deren Spitze ein direkt von der Bevölkerung gewählter Regionalpräsident mit einem Regionalrat steht.

Eine Verfassungsreform bewirkte, dass Griechenland nun über autonome Departements verfügt.

Daneben gibt es auch Regionen mit Gesetzgebungskompetenzen und einem Sonderstatus, den sie wahren oder gar weiterentwickeln konnten. Das sind etwa die Insel Åland im Einheitsstaat Finnland, Neukaledonien, das zu Frankreich gehört, sowie die portugiesischen Inseln Azoren und Madeira.

Bei einem vergleichenden Überblick über die Entwicklung der Regionalisierung in der EU kann also ziemlich klar festgestellt werden, dass die europäische Integration - von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt - zu einer Vertiefung der demokratischen Dezentralisierung unter Wahrung der Vielfalt und der Verfassungsordnung der einzelnen Mitgliedsstaaten geführt hat.

Der Verfassungsvertrag fördert diese Entwicklung und trägt damit zur verstärkten Akzeptanz der EU bei ihren Bürgern bei.

Der Autor ist Universitätsdozent für Neuere Geschichte und Vorsitzender der Kommission für konstitutionelle Fragen und Regieren in Europa im Ausschuss der Regionen der EU.