Steinbrück: Höchstgericht überschreitet Kompetenz. | Kritik könnte als Einschüchterung | verstanden werden. | Wien. Im Mai hatte der deutsche Finanzminister Peer Steinbrück schon angekündigt, er werde sich nach Ende der deutschen EU-Präsidentschaft kritisch mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum Steuerrecht auseinandersetzen.
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Am 3. Juli war es soweit: In einer Rede an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder rügte der Minister, dass sich der EuGH zum Sachwalter internationaler Konzerne mache, weil er grenzüberschreitende Steuersparmodelle großer Konzerne ermögliche. Außerdem überschreite das Höchstgericht seine Kompetenzen.
Kritik am EuGH muss selbstverständlich zulässig sein. Jedes Gericht ist auf Kritik an seinen Urteilen angewiesen, um den einmal bezogenen Standpunkt überprüfen zu können.
Kritik seitens der Politik sollte allerdings von Respekt gegenüber den europäischen Institutionen getragen sein. Sonst tragen solche polemischen Äußerungen zu dem von Steinbrück selbst beklagten Akzeptanzverlust der EU bei ihren Bürgern bei.
Kritik ist unzutreffend
Inhaltlich ist die Kritik des deutschen Finanzministers unzutreffend. Zwar kosten Urteile des EuGH die Mitgliedstaaten manchmal tatsächlich beträchtliche Steuereinnahmen.
Die Rechtsprechung des EuGH kann nämlich bewirken, dass Ausländern dieselben Begünstigungen wie Inländern zu gewähren sind. Wenn der Ausländer in seinem Heimatstaat ebenfalls in den Genuss eines Steuervorteils kommt, wird er somit doppelt begünstigt. Umgekehrt beseitigt die EuGH-Rechtsprechung in anderen Fällen auch innergemeinschaftliche Doppelbesteuerung nicht.
Gerade auf diese Weise vermeidet der EuGH die Kompetenzüberschreitung: Würde seine Rechtsprechung sicherstellen, dass Einkünfte innerhalb der EU weder doppelt noch gar nicht besteuert werden, würde er Kompetenzen der politischen Organen wahrnehmen. Denn Steuerharmonisierung ist Aufgabe des Rates und der dort vertretenen Mitgliedstaaten. Der EuGH kann nur Verstöße gegen die Grundfreiheiten beseitigen und die Schwächen der Steuersysteme jedes Mitgliedstaates bloßlegen.
Steinbrück kritisierte auch die mangelnde Fachkompetenz der EuGH-Richter, die in zunehmendem Ausmaß Steuerfälle zu entscheiden haben. Tatsächlich verfügen wenige Richter des EuGH über steuerlichen Hintergrund.
Innovative Lösungen
Gerade die österreichischen Erfahrungen belegen aber, dass auch viel für ein in erster Linie mit Generalisten zusammengesetztes Höchstgericht spricht. Denn dem Verfassungsgerichtshof (VfGH) gehören auch vorwiegend Generalisten an. Und häufig ist es der VfGH, der jahrzehntelang tradierte Auffassungen hinterfragt und gegebenenfalls in verfassungskonformer Auslegung über Bord wirft. Generalisten setzen sich unbefangener mit immer schon vertretenen Auslegungen auseinander und gelangen oft zu innovativen Lösungen.
Zutreffend ist allerdings, dass der EuGH mit Steuerfällen unterschiedlicher Art konfrontiert ist: Die Auslegung von Richtlinienvorschriften muss nicht unbedingt ausschließlich dem Höchstgericht der EU vorbehalten sein.
Der EuGH könnte künftig schwerpunktmäßig zur Interpretation der Grundfreiheiten und anderer primärrechtlicher Vorschriften zuständig sein. Die Auslegung des Sekundärrechts könnte zunächst bei einem unterinstanzlichen EU-Gericht liegen. Diese rechtspolitische Diskussion sollte sich allerdings nicht auf das Steuerrecht beschränken. Eine von Politikern initiierte und nur auf das Steuerrecht konzentrierte Diskussion zur Zusammensetzung oder zur Zuständigkeit des EuGH könnte als Versuch der Einschüchterung des Gerichts verstanden werden.
Universitätsprofessor Michael Lang ist Vorstand des Instituts für Österreichisches und Internationales Steuerrecht der Wirtschaftsuniversität Wien.