Europa versucht bei Griechenland eine Operation am offenen Herzen - und das noch dazu ohne Narkose. Die Euroländer haben sich über Monate damit aufgehalten, dem Schwerkranken seinen liederlichen Lebenswandel vor Augen zu halten. Damit ist wertvolle Zeit vor der Operation verloren gegangen. Vor allem Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel wollte mit Härte punkten. Alle Askese-Forderungen sind prinzipiell richtig, zu diesem Zeitpunkt aber fehl am Platz: Wenn der Patient am OP-Tisch liegt, ist es sinnlos, ihm vorzuhalten, er hätte vor Jahren mit dem Rauchen aufhören sollen.
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Über die Griechenland-Rettung und die Zukunft des Euro berichten Wolfgang Tucek (Brüssel) Reinhard Göweil (Wien), Hermann Sileitsch (Wien) und Birgit Riezinger (Online).
Wer sich vor Augen führt, wie riskant dieses Experiment ist, dem wird einleuchten, dass das akute Eingreifen absoluten Vorrang hatte - und das nicht aus Sympathie zu den Griechen, sondern aus purem Eigennutz: Alle vorgeblichen "Lösungen", die Populisten aus ganz Europa vorgeschlagen hätten - vom Zwangsaustritt Athens aus dem Eurosystem bis hin zur Staatspleite - hätten den Kontinent mit einem Finanzchaos überzogen, das wohl nicht nur den Kollaps von Lehman Brothers in den Schatten gestellt, sondern in einen neuerlichen Konjunkturabsturz gemündet hätte. Mit einem gravierenden Unterschied: Anders als vor eineinhalb Jahren fahren die Zentralbanken im absoluten Krisenmodus und könnten nicht mehr reagieren - und auch die Staaten hätten null Spielraum für weitere Bankenrettungen oder Konjunkturstimuli.
Deshalb ist diese gefährliche und möglicherweise kostspielige Notoperation die einzige Option. Warum es eine Operation ohne Narkose ist? Weil die Griechen alle Schmerzen unmittelbar zu spüren bekommen. Denn - auch wenn einzelne Schlagzeilen in den kommenden Tagen anderes vermelden sollten - das Land ist noch nicht gerettet. Wichtiger als die Erstversorgung wird die Rehabilitation in den nächsten Jahren sein. Und hierbei wird es an der griechischen Bevölkerung liegen, ob diese Gesundung gelingt, oder nicht. Alle politischen Verantwortungsträger Europas stehen vor einer wichtigen Aufgabe: Sie müssen den Hellenen in den nächsten Tagen, Wochen, Monaten und Jahren verständnisvoll aber eindringlich aufzeigen, dass sie auf lange Sicht von jenem Blut-, Schweiß- und Tränenkurs profitieren, der ihnen jetzt abverlangt wird. Auch, wenn das in Athen derzeit wohl keiner so sehen wird.
Die harten Sparmaßnahmen, die den Griechen von Währungsfonds und EU diktiert wurden, sind ein notwendiges Signal für die Kreditgeber und die Finanzmärkte sowie eine Warnung für mögliche Nachahmungstäter. Falls die Euroländer der Meinung sein sollten, sie hätten durch ihre Rettungsaktion und die Notkredite ihre Solidarität mit Griechenland ausreichend unter Beweis gestellt, so irren sie jedoch: In der Bevölkerung ist das Signal ganz anders angekommen. Dort regiert laut jüngsten Umfragen eine Mischung aus Verbitterung, Angst und Schamgefühl, die große Sprengkraft birgt. Europa wird deshalb sehr darauf achten müssen, dieses Frustpotenzial aufzufangen. Die Rettung Griechenlands und damit des Eurosystems scheint jetzt zumindest möglich. Am ehesten könnte sie noch auf den Straßen Athens scheitern.
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