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"Eurokrise ist die perfekte Story"

Von Thomas Seifert und Hermann Sileitsch

Politik

Moral vom "sorglosen Südeuropäer" hat sich zur "Geschichten-Blase" verfestigt.


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Für Robert J. Shiller ermöglichen Innovationen und Demokratisierung eine bessere Finanzwelt.
© © Stanislav Jenis

"Wiener Zeitung": Großbanken haben seit dem Vorjahr weltweit 160.000 Jobs gestrichen. Kann man da jungen Menschen guten Gewissens raten, eine Karriere im Finanzsektor anzustreben? Sollten die besten Talente nicht Sinnvolles machen - etwa zur NASA oder in die Krebsforschung gehen?

Robert Shiller: Manche sind der Meinung, wir hätten zu viele Ärzte in den USA, weil unsere Gesundheitsausgaben so hoch sind - mit schlechteren Resultaten als in Europa. Ich denke, die Menschen im Finanzsektor erfüllen so wie Doktoren eine wichtige Rolle für die Gesellschaft. Wie viele es braucht? Eine schwierige Frage.

Mir schwebt eine Zukunft vor, wo wir auf einen Karrierezeitraum von 50 Jahren und darüber hinaus womöglich mehr Leute im Finanzdienstleistungsbereich brauchen. Die Wirtschaft wird immer stärker von Informationstechnologie dominiert. Viele Finanz-Karrieren werden auch in diesem Umfeld sehr gut verlaufen.

Nobelpreisträger Muhammad Yunus hat jüngst im Interview gesagt, eine Handvoll Wall-Street-Banker habe die Finanzkrise verursacht. Würden Sie dem zustimmen?

Finanzakteure sind in Filmen nie die Helden, sondern fast immer die Gauner. Ich halte die Krise für ein soziales Phänomen, das mit dem Denken von Millionen Menschen zusammenhängt. Es ist schwer, einen Schuldigen festzumachen. Das ist so ähnlich, wie die Gründe für den Ersten Weltkrieg zu beschreiben. War die Ermordung von Thronfolger Franz Ferdinand verantwortlich? Das ist eine gängige Story, aber absurd.

Vieles hat zu der Krise hingeführt: Die Idee, dass Märkte rundum effizient sind und Spekulationsblasen nicht vorkommen. Die Vorstellung, dass Immobilien ein sicheres Investment sind. Eine zynische Haltung bei Hypothekenfinanzierern, von denen manche betrügerisch gehandelt haben. Ratingagenturen, deren Bewertungen auf beschämende Weise falsch waren. Das widerlegt aber nicht das System als Ganzes.

Sie schreiben, der Finanzkapitalismus sei noch unfertig, vervollkommne sich aber allmählich. Wir müssten also nur der Innovationskraft und Kreativität der Industrie vertrauen. Ist das nicht naiv?

Ich weiß nicht, ob das naiv ist. Fakt ist, dass die Ungleichheit der Einkommensverteilung stark zugenommen hat - viele vernünftige Menschen schreiben das dem größeren politischen Einfluss der Finanzindustrie zu. Die Lobbyingaktivitäten, um die Regierung zu beeinflussen, haben zweifellos stark zugenommen. Das ist ein Problem für demokratische Gesellschaften.

Wir brauchen Lobbyisten, denn die Regierung kann nicht alles im Blick haben. Aber wir könnten etwa Non-Profit-Organisationen im öffentlichen Interesse stärker unterstützen. In den USA war ein Rückschlag, dass der Oberste Gerichtshof Organisationen erlaubt hat, Präsidentschaftskampagnen unbeschränkt zu unterstützen. Die Wahl hat aber gezeigt, dass es ohnehin nicht funktioniert: Romney hat verloren, obwohl er das meiste Geld zur Verfügung hatte.

In den letzten Jahren seit 2008 hat es nicht so ausgesehen, als würde der Finanzsektor immer besser . . .

Finanzkrisen machen wütend. Die Öffentlichkeit will im Moment keine inspirierenden Geschichten über den Finanzsektor hören. Innovationen gelten schon gar nicht als publikumswirksames Thema - ich möchte aber gerade deren Nutzen aufzeigen.

Ein Beispiel, das wegen der Immobilienkrise viel Zorn erregt: verbriefte Hypothekenkredite. Dadurch konnten Banken Kredite bündeln und die mit Eigenheimhypotheken besicherten Wertpapiere an Investoren weiterverkaufen. Diese haben sie neu verpackt und nach Risikoprofilen portioniert. Dieser Industriezweig steht jetzt unter Generalverdacht und gilt als böse, weil die Ratingagenturen zu gute Noten vergeben haben. Ich glaube, wir können das reparieren und kriegen einen effizienteren Markt, sodass sich mehr Leute ein Eigenheim leisten können. Dieser Nutzen ist freilich nicht so offensichtlich wie der einer lebensrettenden Schutzimpfung.

Sie haben die Immobilienblase früh prophezeit, deshalb überrascht ihr Optimismus umso mehr. Einige Banken haben den Libor-Zinssatz manipuliert, andere Kunden als "Muppets" abgetan und ihnen Produkte verkauft, gegen die sie selbst gewettet haben. Es gab Schneeballsysteme wie das von Bernard Madoff. Wir könnten die Liste lange fortsetzen.

Reden wir über die katholische Kirche: Dieses Land ist recht katholisch, nicht wahr? Ich könnte jetzt eine ganze Reihe von Verfehlungen aufzählen. Menschen neigen dazu, solche Aufzählungen anzustellen.

Das heißt, es gibt überall schwarze Schafe?

Meine Sicht der menschlichen Natur ist stark psychologisch geprägt. Nicht alle Menschen sind immer nett, es gibt starke Impulse der Schadenfreude. In prähistorischer Zeit war das Leben viel gefährlicher, Menschen sind wegen Nichtigkeiten ermordet worden. Die Natur hat sich kaum verändert, die Leute sind aber durch Institutionen, die wir geschaffen haben, zivilisierter geworden. Ich habe Madoff nie getroffen, womöglich hat er eine Persönlichkeitsstörung - hätten wir bessere Institutionen, wäre vielleicht alles gut gegangen. Wir wollen schließlich, dass sich auch Menschen mit Borderline oder anderen Problemen in die Gesellschaft integrieren - einige davon werden im Finanzsektor landen. Das diskreditiert aber nicht das ganze System.

Ein großes Problem ist soziale Ungleichheit. Sie sagen: Diese wird durch die Finanzdienstleistungsindustrie verschlimmert - zugleich motiviere die Ungleichheit die Akteure zu ökonomischer Aktivität.

In den USA gibt es die Ansicht, dass manche Manager riesige Gagen von 50 Millionen Dollar oder mehr verdienen. Das muss gar nicht einmal falsch sein: Spitzenmanager treffen Entscheidungen, bei denen es um sehr viel geht. Ein einzelner Manager kann so für seine Firma unglaublich wertvoll sein. Das extremste Beispiel ist vielleicht Steve Jobs. Erinnern wir uns: Als er Apple 1985 verließ, ging es mit der Firma bergab.

Mein Kollege Rakesh Khurana hingegen hält die meisten Spitzenmanagern nur für besonders begabte Blender. Die Amerikaner glauben an diesen Kult der genialen CEO. Diese Spitzenmanager können die Firma täuschen und dazu bringen, Ihnen diese unglaublich hohen Gehälter zu bezahlen. Dennoch: Man findet in den USA immer wieder geniale Spitzenmanager, die tolle Produkte zur Marktreife bringen. Und ich denke doch, dass das mit unserem Belohnungssystem zu tun hat.

Das mag sein. Aber viel ungemütlicher ist doch die Lage der Menschen am unteren Einkommensende. Wie erklären Sie diesen die Vorteile unseres Finanzsystems?

Ich bin kein Radikalliberaler, der behauptet, mit einem absolut freien Markt wäre alles in bester Ordnung. In manchen Aspekten bin ich sogar ziemlich weit links: Ich war einer der wenigen US-Amerikaner, die François Hollandes Steuerpläne, Reiche mit mehr als 1.000.000 Euro Einkommen mit 75 Prozent zu besteuern, begrüßt haben. Das klingt für mich nicht unvernünftig: Wenn die soziale Ungleichheit noch schlimmer wird, müssen wir uns darauf einrichten, dass sehr hohe Steuern angemessen sind.

Sie halten eine weitere Demokratisierung des Finanzwesens für nötig. Die Sparkassen hatten dieses Ziel schon vor 200 Jahren. Warum sind wir immer noch nicht weiter?

In den USA sind mehr als 10 Millionen Menschen ruiniert, weil die Höhe ihrer Hypothek den Wert ihres Hauses übersteigt. Menschen wurden zu sehr unklugen Investitionsentscheidungen verleitet. Das müssen wir reparieren - und es darf auch nicht mehr passieren. Gleichzeitig brauchen wir neue Produkte. Ich denke etwa an eine Lebenszyklen-Versicherung. In nicht allzu ferner Zukunft wird es Autos geben, die ohne Fahrer auskommen. Was machen Sie da, wenn Sie Taxifahrer oder Chauffeur sind?

Mir schwebt eine Versicherung vor, die man am Anfang seines Berufslebens gegen solche Risiken abschließt. Verliert man den Job, wird die Versicherungsprämie ausbezahlt und man hat Geld, das man in die Ausbildung für einen neuen Job investieren kann.

Einigen sich Demokraten und Republikaner auf einen Budgetpfad oder stürzen die USA über die "fiskalische Klippe" in die Rezession?

Das Problem ist: Die meisten Republikaner haben das Grover- Norquist-Versprechen geleistet, nie und nimmer die Steuern zu erhöhen. Obama hingegen will zumindest die Steuer für die Wohlhabenden erhöhen. Da wird es sehr schwierig, einen gesichtswahrenden Kompromiss zu finden - das könnte eine ganze Weile dauern. Vielleicht wird deshalb die Frist noch einmal erstreckt.

Im Buch "Animal Spirits" beschreiben Sie, wie wichtig Geschichten für den Erfolg von Unternehmen sind und wie sehr sie Märkte bewegen können. Wie wichtig ist das Story-Element bei der Eurokrise?

Sehr wichtig. Insbesondere Deutschland, aber auch Österreich, erzählt diese Krise als eine Story moralischer Werte: Manche Menschen handeln verantwortungsbewusst und andere, die vornehmlich im Süden wohnen, weniger.

Ich simplifiziere jetzt: Das Ganze begann 2008, als in Griechenland die Menschen auf die Straße gingen, um gegen die Kürzungen im Sozialbereich zu protestieren. Diese Geschichte ging um die Welt, viele Berichte zeigten wenig Verständnis - die Griechen wüssten gar nicht, was harte Arbeit sei.

Dann begannen Ende 2009 die Zinsen auf griechische Staatsanleihen zu steigen. Ihr Journalisten habt euch da an die unverantwortlichen Griechen erinnert. Bald kam dann die Geschichte dazu, dass Griechenland wegen seiner Schulden bankrott gehen könnte. Das wurde zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.

Dann hieß es plötzlich, auch Italien sei gefährdet, Spanien detto. Daraus hat sich eine richtige Story-Blase entwickelt. Die Menschen lieben Geschichten und moralisierende noch mehr. Insofern war das eine perfekte Story. Der Gedanke, der ganze Euro könnte daran zerbrechen, hat dieser gewaltige Resonanz gegeben. Deshalb redet die ganze Welt über die Eurokrise.

Robert J. Shiller (66) wird seit Jahren als heißer Anwärter auf den Wirtschaftsnobelpreis gehandelt. Der Ökonom, der an der Yale University unterrichtet, hat sowohl die New-Economy- als auch die Immobilienblase frühzeitig vorhergesagt. Gemeinsam mit George Akerlof beschrieb er 2009, wie "Animal Spirits", also nicht-rationale Aspekte, unser Handeln bestimmen. Shiller war auf Einladung des Bruno-Kreisky- Forums, der OeNB, der US-Botschaft und des Campus Verlages in Wien, um sein jüngstes Buch "Märkte für Menschen. So schaffen wir ein besseres Finanzsystem" vorzustellen (Campus 2012. 36 Euro).