Zum Hauptinhalt springen

"Euromythen" haben Hochsaison

Von Jean-Luc Testault

Europaarchiv

Prag - Mastschweine müssen mit Spielzeug unterhalten werden und krumme Gurken dürfen nicht auf den Markt - so jedenfalls stellen sich viele Bürger Osteuropas die Vorschriften der Brüsseler EU-Bürokratie vor. Ein Jahr vor der Erweiterung der Europäischen Union florieren in den Beitrittsländern die Legenden über bizarre Reglements der "Technokraten" der Staatengemeinschaft. "Euromythen" nennt die polnische Nachrichtenagentur PAP diese Gerüchte und widmet ihnen | einen eigenen Dienst, um sie aufzulisten und zu widerlegen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 21 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Polnische Fischer fürchten nämlich mittlerweile, sie dürften nur noch mit Haarnetzen zum Fischen hinausfahren, wenn ihr Land erst einmal Mitglied der EU ist. In Ungarn sorgen sich Milchtrinker, Vollmilch werde aus den Regalen verschwinden und durch Halbfettmilch ersetzt. Und in Tschechien graust es die Liebhaber eines besonders streng riechenden Käses, da dieser angeblich nach der Osterweiterung im Mai 2004 verboten werde.

Medien mitschuldig

Freilich werden die Gerüchte über skurrile EU-Vorschriften nicht nur durch Hörensagen weiterverbreitet, auch die Medien nehmen sich gerne des Themas an. Der tschechische Privatsender TV Nova widmete kürzlich eine ganze Reportage der Aufzucht von Schweinen in der EU. Brüssel verpflichte die Schweinezüchter, Spielsachen für ihre Tiere bereitzustellen, damit diese sich nicht langweilten, hieß es da.

Die Angelegenheit, die wie bei Euromythen so oft auf einen Artikel in der britischen Presse zurückging, wurde so aufgeblasen, dass die Vertretung der EU-Kommission in Prag schließlich sogar öffentlich dementieren ließ. Wahr ist, dass in EU-Vorschriften von 1991 von einem "stimulierenden Lebensumfeld" und "Beschäftigungsmaterial" für die Schweine die Rede ist. Gedacht ist dabei etwa an Stroh, Heu oder Torf - nicht aber an Teddybären oder Basketbälle, wie die britische Presse fabulierte.

So technokratisch die EU-Verwaltung auch sein mag - was in den Euromythen daraus wird, ist bis zur Absurdität übertrieben. In den Kandidatenländern wird gegenwärtig auch ein altes Klischee aus Großbritannien neu aufgelegt, mit dem das Massenblatt "The Sun" 1998 für Furore sorgte: In der EU dürften keine krummen Gurken verkauft werden. Daran stimmt nur so viel, dass gerade und krumme Gurken unterschiedlichen Güte- und Handelsklassen angehören - und diese sollen den EU-weiten Agrarhandel mit Obst und Gemüse erleichtern.

Identitätsverlust

Die Übertreibung sei eine Form, mit der Angst umzugehen, analysiert der französische Soziologieprofessor Jean-Bruno Renard. "Gerüchte sind sehr konservativ", beschreibt der Wissenschaftler die Reaktion der Menschen auf bevorstehende Veränderungen, die ihnen Angst machen und den Verlust ihrer Identität befürchten lassen. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und der plötzlichen Umstellung auf die Marktwirtschaft fühlten sich viele Menschen orientierungslos und im Stich gelassen. Mit dem EU-Beitritt kommt der nächste rasante Wandel, und die Fragen der Bürger an den Infotelefonen zeugen vielfach von Überforderung. So fragte vor dem Referendum in der Slowakei ein Gemüsebauer, wieviele Karotten er denn in der EU noch anbauen dürfe.

"Das Thema Lebensmittel ist in der Geschichte der Gerüchte eine Konstante, es hat direkt mit dem heimatlichen Boden zu tun, dem Rhythmus des Lebens", sagt Renard. Und auch das Bild des Technokraten habe seine Geschichte. "Der Technokrat ist eine klassische Figur geworden, früher waren es die Adeligen, dann die Großbürger und die Chefs." Die Idee sei die gleiche: "Sie kennen uns nicht, haben sich von unseren Sorgen weit entfernt und entscheiden an unserer Stelle."