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Europa 2017

Von Wolfgang Schmale

Gastkommentare
Wolfgang Schmale ist Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Wien. Er ist auch Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und betreibt den Europa- Blog "Mein Europa" (wolfgangschmale.eu).

Eine europäische Kultur im Singular gibt es nicht mehr, sie ist heute auf erschreckende Weise national zersplittert wie noch nie.


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Die meisten Probleme Europas beziehungsweise der EU aus den vergangenen Jahren bestehen 2017 fort. Dies kann ein Anlass sein, sich grundsätzlichen Gedanken zu widmen. Dazu zählt die Frage der europäischen Kultur. An dieser wird, anders als in der Zeit zwischen den Weltkriegen und nach 1945, seit geraumer Zeit nicht mehr gemeinsam gearbeitet.

Zu den Debatten, zum Beispiel rund um Oswald Spenglers "Untergang des Abendlandes" (1918 bis 1922 erschienen), zählte die Frage, was den Europäer ausmacht. Stellen wir die Frage für heute: Am liebsten beschäftigt sich der Europäer mit sich selbst - mag die geografische und historische Nachbarschaft des Nahen Ostens und Nordafrikas sowie des östlichen Osteuropas (zum Beispiel Ukraine) noch so sehr an ökonomischen, kriegerischen, terroristischen und sozialen Problemen leiden. Die Beschäftigung mit sich selbst hat einen nationalistischen Kern der Abschottung, sodass auch den europäischen Nachbarn gegenüber keine Solidarität geübt wird.

Das lässt beim Europäer auf eine schwach ausgebildete Persönlichkeit und wenig Selbstvertrauen schließen. Starkeworterhetorik findet daher immer mehr Anhänger und Akteure. Wer in sich ruht, braucht diese Rhetorik nicht und bleibt offen, reagiert mit Augenmaß, schaut um sich, denkt in längeren Zeiträumen, traut sich zu, andere auf den Weg der Demokratie zu bringen, Russland und Türkei inklusive.

Die negativen Eigenschaften treffen vorerst nur auf 30 oder 40 Prozent der Europäer zu. Aber diese umfängliche Minderheit reicht aus, um Europa zu blockieren. Bis 2018 könnte daraus eine Mehrheit werden, wenn zum Beispiel Marine Le Pen die Präsidentschaftswahlen in Frankreich gewinnt. In mehreren EU-Ländern könnte es vorzeitig zu Neuwahlen kommen: Griechenland, Italien, Spanien, Österreich. In Deutschland und den Niederlanden (reguläre Wahlen 2017), ist mit deutlichen Gewinnen der Rechtsparteien zu rechnen. Es werden die Brexit-Verhandlungen und damit eine Phase der Ungewissheit beginnen, was sich auf die sozio-ökonomischen Mobilitätsströme innerhalb der EU auswirken kann. Vielleicht bringt 2017 den Bruch zwischen der Türkei und der EU mit einer erheblichen Zunahme türkischer Asylsuchender/Flüchtlinge.

Vielleicht wird Israel dank des Tandems Trump-Netanjahu ein akuter Konfliktherd. Ist die EU darauf vorbereitet oder dreht man sich wieder einfach um und schaut auf den eigenen Bauchnabel?

Der Terror wird bleiben, und trotzdem wird die europäische Zusammenarbeit zur Terrorbekämpfung wie in den Vorjahren aus lauter Misstrauen untereinander nicht entscheidend vorankommen. Und damit zurück zur fehlenden Kulturdebatte: Eine europäische Kultur im Singular gibt es nicht mehr, sie ist heute auf erschreckende Weise national zersplittert wie noch nie. Das hat nichts mehr mit der oft zitierten europäischen Vielfalt zu tun. Hier muss eine Kulturdebatte ansetzen, die die eingetretene nationalistische Zersplitterung in positive Vielfalt transformiert und die sich der Frage stellt, was Europäer sind. Das wird harte Arbeit, aber wir sollten sie nicht scheuen, wenn uns Europa lieb ist.