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Europa 4.0 - gleiches Recht für alle

Von Ulrike Guérot

Gastkommentare

Gastkommentar: Die Europäische Bürgerunion, neben der Staatenunion einer der zwei Pfeiler, die im Maastrichter Vertrag eigentlich versprochen wurde, ist eine Farce.


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An nichts mangelt es Europa derzeit so sehr wie an konstruktiven Ideen, diesen Kontinent zu gestalten. Dass die EU in ihrer derzeitigen Form als politische Organisationsform nicht mehr viel taugt, sickert in das öffentliche Bewusstsein, man muss dafür kein Populist sein oder mit Pegida auf der Straße marschieren.

Die EU wirkt kraftlos und verwelkt; nicht in der Lage, ihren eigenen Rechtsrahmen durchzusetzen, wenn etwa Frankreichs Präsident François Hollande sich gegen die Minimumstandards für europäische Gastarbeiter wehrt, Premier Matteo Renzi die italienischen Banken gegen die Auflagen der Bankenunion mit öffentlichen Geldern rekapitalisieren will, EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker sich mit Steuerbetrug auseinandersetzen muss; oder wenn die EU unfähig erscheint, der offensichtlichen Demontage von Rechtsstaatlichkeit in Ungarn oder Polen irgendetwas entgegenzusetzen. Was aber ist die EU dann noch, wenn nicht ein gemeinsamer Rechtsrahmen? Gilt wieder das Recht des politisch Stärkeren, allzu oft Deutschland in diesem Fall?

Europäische Ungleichheit

Das gemeinsame, das gleiche Recht gar, ist indes die Grundlage für jede politische Union. Kein politisches Gemeinwesen kann funktionieren, wenn das Recht nicht das gleiche ist und die Bürger vor dem Recht nicht gleich sind. Nicht umsonst ist in jener berühmten Definition von Ciceros Republik das "ius consentium", das Recht, auf das sich alle gemeinsam verpflichten, der zentrale Bedeutungsgehalt der Republik, der "res publica", also der Ordnung des Gemeinwesens.

In der EU ist genau dies nicht gewährt. Die EU, wiewohl als politisches Projekt gedacht, bietet im Wesentlichen eine gemeinsame Währung und einen Binnenmarkt, indes keinen gemeinsamen Rechtsrahmen für diejenigen, die die eigentlichen Träger von Souveränität sind, nämlich die europäischen Bürger: Von Finnland bis Portugal wählt man das Europäische Parlament nicht nach gleichem Wahlrecht und zu gleichen Bedingungen; von Frankreich bis Griechenland zahlt man nicht die gleichen Steuern, von Irland bis Italien hat man nicht den gleichen Zugang zu sozialen Rechten.

Die europäischen Bürger werden so permanent gegeneinander ausgespielt. Sie sind im Zangengriff von Nationalstaaten, die sich durch Steuer- und Sozialwettbewerb auf Kosten der Bürger Wettbewerbsvorteile ergattern: Deutsche Firmen genießen niedrigere Steuern und Löhne in Slowenien; irische Firmen eine andere Unternehmensbesteuerung als niederländische usw. Mehr noch: Eine deutsche Witwe eines Niederländers bekommt nach ihrer Rückkehr nach Deutschland keine Witwenrente. Eine deutsche Mutter, die mit einem Dänen in Kopenhagen lebt, bekommt dort von Dänemark kein Elterngeld, weil sie keine Dänin ist, und auch keines von Deutschland, weil sie in Dänemark wohnt. Die Freizügigkeit gilt also nur für Unternehmen; Bürger werden meistens dafür bestraft. Vor dem Recht sind die europäischen Bürger noch lange nicht gleich, sondern segregiert nach Nationalstaaten.

Europäische Staatsbürgerschaft

Anders formuliert: Die Europäische Bürgerunion, neben der Staatenunion einer der zwei Pfeiler, die im Maastrichter Vertrag eigentlich versprochen wurde, ist eine Farce. Pierre Rosanvallon, der berühmte französische Soziologe, nennt sie die Lebenslüge der EU.

Nirgends sieht man das deutlicher als an der gegenwärtigen Diskussion um den Brexit: Die Briten, selbst die, die gegen den Brexit gestimmt haben, werden ihre europäische Staatsbürgerschaft in dem Moment verlieren, in dem das Vereinigte Königreich als Staat die EU verlässt, wie es jetzt beschlossen ist. Die europäische Staatsbürgerschaft ist nämlich keine direkte, sondern nur eine nachgeordnete. Sie ist gekoppelt an die Mitgliedschaft des jeweiligen Landes an die EU.

Genau dies aber ist die Stellschraube für eine Neuausrichtung der EU beziehungsweise Europas. Denn die Bürger, nicht die Staaten sind Souverän. Wäre die europäische Staatsbürgerschaft eine unmittelbare, könnte Großbritannien die EU verlassen - die Briten blieben Unionsbürger.

Wenn es noch die Absicht gibt, jenseits der EU in Europa ein politisches Projekt zu verfolgen, dann müsste hier angesetzt werden: Keine politische Einheit ohne normative Einheit, also Gleichheit vor dem Recht. Man nennt es den allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatz. Ihm muss das nächste europäische Projekt Genüge tun. Ohne politische Gleichheit der Bürger keine repräsentative, parlamentarische Demokratie in Europa. Sie gilt es jetzt zu schaffen, damit der Euro als verwaiste Währung eingebettet werden kann in eine veritable nachnationale Demokratie.

Es geht nicht um einen europäischen Zentralstaat; und es geht auch nicht um eine amalgamierte europäische Identität, sondern es geht um normative Einheit bei kultureller Vielfalt. Genau dies hieße Einheit in Vielfalt, was immer das europäische Leitmotiv gewesen ist. Die kulturelle Identität, die Heimat aber liegt nicht bei den Nationen. Nationen sind Fiktion, Heimat ist Fiktion, schreibt der berühmte österreichische Schriftsteller Robert Menasse. Eine Nation, das ist nur eine Erzählung über ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Deutsche aus Hamburg, München oder dem Rheinland sind kulturell eben nicht identisch: Küche, Dialekt, oft Religion und Mentalität sind durchaus unterschiedlich. Nur darüber schwebt die Einheitserzählung der deutschen Nation.

Europäische Republik

Die meisten Menschen wünschen ein geeintes Europa in der Welt; und sie wünschen ihre kulturelle Identität, die einen regionalen Bezugsrahmen hat. Die Lösung für Europa könnte lauten: Wir begründen eine Europäische Republik, die allen europäischen Bürgern Gleichheit vor dem Recht gewährt. Träger dieser Republik sind die europäischen Kulturregionen. Die Bürger sind zu gleichen Bedingungen - eine Person, eine Stimme - im Europäischen Parlament vertreten; die Regionen im Senat. Zusammen bilden beide Kammern den Europäischen Kongress. So könnte eine konsequent nachnationale, parlamentarische und repräsentative europäische Demokratie aussehen, die dem Prinzip der Gewaltenteilung nach Charles de Montesquieu entspricht und in der die Nationen abgeschafft, die Regionen aufgewertet wären. Europa wäre normativ geeint und kulturell vielfältig; nach außen stark in der Welt, nach innen dezentral und regional bunt.

Zur Autorin

Ulrike Guérot

arbeitet als Publizistin, Essayistin und Analystin zu Themen der europäischen Integration sowie zur Rolle Europas in der Welt. Sie ist Gründerin und Direktorin der Denkfabrik "European Democracy Lab" an der European School of Governance in Berlin. Seit Frühjahr 2016 leitet sie das Department für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems.

Der vorliegende Text ist ein Auszug aus dem Buch "25 Ideen für Europa", das im Eigenverlag der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik erscheint. Kostenlose E-Book-Version unter: www.oegfe.at/25ideenfuereuropa