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Europa als Feindbild und Lebensader

Von WZ-Korrespondentin Kathrin Lauer

Politik

Ungarn stieg unter Viktor Orbán vom politisch unbedeutenden EU-Mitglied zu einem Vorreiter der "illiberalen Demokratie" auf. Gleichzeitig profitiert der Premier von den Fördertöpfen aus Brüssel - und sucht die Nähe zu Russland.


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Budapest. Zum Abschluss erhielt Viktor Orbán Schützenhilfe aus Polen. Jaroslaw Kaczynski, Mastermind der nationalkonservativen Regierungspartei PiS, reiste eigens nach Budapest: "Die Würde und die Freiheit von Nationen sind eng mit dem Namen Viktor Orbán verbunden, nicht nur für die Ungarn, sondern auch für die Polen. Sie werden über die Freiheit entscheiden", sagte Kaczynski am Freitag, zwei Tage vor der Parlamentswahl. Viktor Orbán kämpft dabei um seine dritte Amtszeit in Folge. Der seit 2010 amtierende Premier gab das Kompliment artig zurück. Polen und Ungarn seien auf einem gemeinsamen Weg, in einem gemeinsamen Kampf mit einem gemeinsamen Ziel: "Unser Heimatland so aufzubauen und zu verteidigen, wie wir es haben wollen, christlich und mit nationalen Werten."

Von einem mittelgroßen EU-Mitglied mit politisch geringer Bedeutung ist Ungarn infolge des Flüchtlingsthemas zu einem der Zentren gegen den vermeintlichen "moralischen Imperialismus" von Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel aufgestiegen.

Orbán hat erfolgreich neue Freundschaften geschlossen. Innerhalb der EU verstärkte er die Aktivität der Visegrád-Gruppe, zu der neben Ungarn auch Polen, Tschechien und die Slowakei gehören, mit dem Ziel, damit Einfluss auf Brüssel zu nehmen. Eine spezielle Beziehung entwickelte sich zu Polen, gegen das die EU wegen der rechtsstaatlichen Probleme ein Strafverfahren eingeleitet hat. Orbán unterstützt Warschau in diesem Konflikt. Die Regierungen beider Länder haben vereinbart, bei Entscheidungen der EU die Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten erfordern - wie etwa das Artikel-7-Strafverfahren - nie gegeneinander zu stimmen.

Kein Rauswurf aus der EVP

Obwohl durch die Schließung der Balkanroute kaum noch Flüchtlinge nach Ungarn kommen und obwohl sie, falls sie kommen, nicht in Ungarn bleiben wollen, hat Orbán die angebliche Gefahr einer Migrantenlawine zu seinem Hauptwahlkampfthema erkoren. Als Strippenzieher sieht er neben der EU dabei den US-Milliardär George Soros. Ziel des aus Ungarn stammenden Holocaust-Überlebenden sei es, durch Massenzuwanderung von Muslimen die Völker Europas ihrer "christlichen und nationalen Identität" zu berauben, behauptet der Premier.

Oft ist Orbán von EU-Politikern kritisiert worden, vor allem wegen des Abbaus der Unabhängigkeit rechtsstaatlicher Institutionen und der Einschränkung der Pressefreiheit. Zu seinen Kritikern gehörten auch Politiker der EVP, des Dachverbands der Christdemokraten im EU-Parlament, zu dem auch Fidesz gehört. Auch dessen Hinauswurf aus der EVP wurde vereinzelt verlangt. Dass es nicht dazu kam, dürfte - ausgerechnet - am Einfluss der dominierenden deutschen Christdemokaten liegen, die es für taktisch günstiger halten, Fidesz durch Inklusion zu kontrollieren.

Europa kommt Orbán zupass, wenn es um EU-Fördermittel geht. Die Verwendung der mehr als 21 Milliarden Euro, die Ungarn im EU-Haushaltszeitraum 2014 bis 2020 bekomme, werde von keiner regierungsunabhängigen Instanz kontrolliert, kritisiert die NGO Transparency International. Sie hat zusammen mit dem Budapester Thinktank Civitas Medienberichte in einem 150 Seiten starken "Schwarzbuch" zusammengefasst. 106 mutmaßliche Korruptionsfälle aus den Jahren 2010 bis 2018 sind darin aufgelistet. Das Fazit: Korruption gab es immer, doch erst nach 2010 seien die Kontrollmechanismen abgebaut worden. Dadurch sei die Korruption keine bloße Funktionsstörung mehr, sondern systemimmanent.

Bekanntester Fall ist jener um Orbáns Schwiegersohn István Tiborcz, der ins Visier des EU-Kontrollamts Olaf geriet. Tiborcz’ Firma Elios habe in 35 Orten Aufträge für die Straßenbeleuchtung bekommen, 17 davon seien nach nicht ordnungsgemäßen Ausschreibungen erteilt worden.

Doch Olaf kann Verdachtsfälle stets nur den nationalen Staatsanwaltschaften anzeigen und ist machtlos, wenn diese Ankläger nicht aktiv werden. In Ungarn erstattete Olaf von 2009 bis 2016 in 31 Fällen Anzeige, doch in nur drei wurde Anklage erhoben. In Österreich lag dieser Anteil bei 60 Prozent, in Estland bei 100 Prozent. Bei einem Drittel der von Transparency-Civitas aufgelisteten Verdachtsfälle in Ungarn sind EU-Gelder im Spiel, in der Hälfte der Fälle geht es um unkorrekte Belohnung von Fidesz-Getreuen, die öffentliche Aufträge erhalten haben.

Im globalen Vergleich lag Ungarn 2017 laut Transparency International in Sachen Korruption im Mittelfeld, doch innerhalb der EU auf Platz zwei hinter Bulgarien. 2016 habe die Situation in Italien und in Griechenland als schlimmer gegolten.

Neu seit den Orbán-Jahren sei der Bereicherungswille der Regierenden, stellte der Jurist und Politologe Péter Tölgyessy jüngst in einem Interview mit dem Portal 444.hu fest. Zur Zeit der Doppelmonarchie und während des Kádár-Sozialismus habe Protz der herrschenden Klasse als unfein und unklug gegolten. Der Kommunistenführer János Kádár habe sich bemüht, nach außen Bescheidenheit zu zeigen. Zwar habe er als Innenminister noch ein Schwimmbecken in seinem Garten anlegen, aber später als Generalsekretär der KP diesen Pool wieder zuschütten lassen, erinnert sich Tölgyessy, der früher ein politischer Weggefährte von Orbán war und heute sein Kritiker ist. Das Verhalten Orbáns und seiner Günstlinge sei typisch für ungebildete Bauern, die zeigen wollen, dass sie es zu etwas gebracht haben.

Endlose Günstlingswirtschaft

Wie reich Orbán persönlich ist, weiß wohl nur er selbst. Jedenfalls sorgen er und sein Kabinett dafür, dass Günstlinge reich werden: Der frühere Gasinstallateur aus Orbáns Heimatdorf Felcsút, Lörinc Mészáros, wurde schwerreich dank massiver öffentlicher Aufträge im Bauwesen und bei Infrastrukturprojekten. Er löste dabei Lajos Simicska ab, den Schulfreund Orbáns und einst wichtigsten Geldbeschaffer der Partei Fidesz. Simicska war nach Orbáns Geschmack zu mächtig geworden. Dem Regierungschef geht es darum, die Oligarchen zu kontrollieren und nicht von ihnen beherrscht zu werden.

Was listen Transparency und Civitas alles auf: Günstlingswirtschaft bei den Stiftungen der Nationalbank, sinnlos verschleuderte Gelder für Roma-Hilfsprogramme, für das 60. Jubiläum des 1956er-Aufstands, Konzessionen für Spielkasinos und Trafiken an Parteifreunde und Verwandte. Ähnliches gilt für die Verteilung von Radiofrequenzen, Ackerland und Schengen-Visa an zum Teil dubiose Nicht-Europäer, die in Ungarn Staatsanleihen kaufen. Es geht um Korruptionspotenzial durch den geheimen Vertrag zur Erweiterung des Atomkraftwerkes Paks mit einem Milliardenkredit aus Russland. Und vieles mehr. Prototypisch wirkt die Geschichte über die wertvollen Gemälde aus dem Budapester Museum der Schönen Künste, die deren Direktor László Báan dem Orbán-treuen Geschäftsmann Árpád Habony für den privaten Gebrauch zu einem Spottpreis vermietete.

Noch dazu habe Orbáns Regierung 2016 ein Gesetz zugunsten der Oligarchen geändert: Der Grenzwert für öffentliche Bauaufträge ohne Ausschreibung wurde von 100 Millionen auf 300 Millionen Forint (etwa eine Million Euro) angehoben. Sollte sich eine Firma bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen ungerecht behandelt fühlen, kann sie sich an ein ungarisches Schiedsgericht wenden, das aber nur mit regierungsloyalen Beamten besetzt sei. Eine Klage bei dieser Instanz kostet stolze 25 Millionen Forint an Gebühren.

Richter noch unabhängig

Regierungskritiker sind sich einig, dass Ungarns Staatsanwälte unter der Führung von Péter Polt mehrheitlich auf Regierungslinie stehen, während die Richter noch weitgehend unabhängig arbeiten. Dass etwas dran ist, zeigen die Reaktionen der Ankläger auf Olaf-Anzeigen und - was die Richter betrifft - der jüngste Skandal um ein Wahlkampfplakat Orbáns. Das Bild zeigt Viktor Orbáns Porträt vor dem Hintergrund der ungarischen Trikolore und darauf der Slogan: "Für uns kommt Ungarn zuerst." Das oberste Gericht Ungarns hat vor kurzem dieses Plakat verboten, weil darauf nicht vermerkt ist, ob dessen Auftraggeber die Regierung oder die Partei Fidesz ist. Dies verstoße gegen ein Transparenz-Gesetz, das die regierende Fidesz selbst 2013 durchgesetzt hat. Das Gericht gab damit einer Klage der Mini-Partei Momentum recht.

Vor allem die Partei Jobbik hat im Kampf gegen Orbán auf das Thema Korruption bei Fidesz gesetzt. Doch ist unklar, ob die nunmehrige Abgrenzung von der rechtsextremen Grundierung der Partei ernst zu nehmend oder taktisch bedingt ist. Es war davon die Rede, dass sich die Oppositionsparteien in allen 106 Wahlkreisen auf jeweils einen gemeinsamen Einzelkandidaten für das Parlament einigen, um Orbáns Fidesz zu bezwingen. Weil es nur einen Wahlgang gibt, bei dem ein Kandidat mit nur relativer Mehrheit ins Parlament einzieht, hat die zersplitterte Opposition nur eine Chance, wenn sie gegen den jeweiligen Fidesz-Kandidaten an einem Strang zieht, sodass sich die Stimmen der Regierungsgegner nicht auf fünf oder gar noch mehr Aspiranten verteilen.

Aus diesem Plan wurde nichts. Jobbik weigerte sich, auch nur einen der 106 Einzelkandidaten zurückzuziehen um einem vielleicht Chancenreicheren aus dem linksliberalen Lager Platz zu machen. Die Linksliberalen und die grüne LMP wiederum verhandelten untereinander erbittert und schafften es, gerade einmal in drei Wahlkreisen gemeinsame Kandidaten aufzustellen. Bis Samstag um 11 Uhr sei noch Zeit für solche strategischen Rückzüge, teilte das zentrale Wahlbüro in Budapest mit. Wie danach die Botschaft den ohnehin schon verwirrten Wähler rechtzeitig erreichen soll, ist unklar.

Nutzt hohe Wahlbeteiligung?

Auseinander gehen die Meinungen, ob eine hohe Wahlbeteiligung Fidesz nutzt oder schadet. Dass Orbán wie schon 2010 und 2014 wieder die parlamentarische Zweidrittelmehrheit bekommen könnte, gilt weiter als nicht ausgeschlossen, wenn auch weniger wahrscheinlich. Das Meinungsforschungsinstitut Medián sieht einen Anstieg der Absicht, zur Wahl zu gehen von 54 auf 68 Prozent. Insbesondere in ländlichen Gebieten sei die Bereitschaft zum Urnengang gewachsen, was für Fidesz vorteilhaft sei. In den Dörfern haben die Menschen schwerer Zugang zu Oppositionsmedien. Hingegen sieht das Institut Publicus in einer hohen Wahlbeteiligung die einzige Chance dafür, dass Orbán einen Denkzettel bekommt. Sollten weniger als 65 Prozent der Ungarn zur Wahl gehen - 2014 waren es 61 Prozent -, könne es wieder zur Zweidrittelmehrheit für Fidesz kommen. Bei einer Beteiligung von mehr als 70 Prozent hingegen könne Fidesz sogar die absolute Mehrheit verlieren. Für diesen Fall prophezeien die Fidesz-Kommunikatoren "Chaos".

Ein trauriges Bild gab die Opposition bei der letzten TV-Diskussion vor der Wahl am Donnerstag ab. Gergely Karácsony, gemeinsamer Spitzenkandidat der ungarischen Sozialisten und der Kleinpartei Együtt, verglich Jobbiks Vorsitzenden Gábor Vona mit einem "Rubbel-Los": Bei ihm wisse man nicht, was unter der Beschichtung sei - wirklich gemäßigt konservative Politik, mit der Jobbik jetzt Ungarns Mitte umwirbt, oder der alte rassistische Unterbau, mit dessen Parolen diese Partei seit ihrer Gründung 2006 zweitstärkste Kraft im Land geworden ist. Vona konterte, die Sozialisten seien selber "Rubbel-Lose", die man schon dreimal abgekratzt habe, ohne zu gewinnen. Um Versöhnung bemühte sich zwischendurch Bernadett Szél, Spitzenkandidatin der kleinen konservativen Ökopartei LMP mit den Worten: "Ich glaube absolut daran, dass Menschen sich ändern können."

Wie bei Putins TV-Strategie

Erwartungsgemäß nicht mit dabei in dieser Runde, obwohl eingeladen, war Viktor Orbán. Diese Taktik erinnerte an die russischen Präsidentschaftswahlen im März. Dort zerfleischten sich die Kandidaten der Opposition im TV. Amtsinhaber Wladimir Putin blieb der Diskussion fern, getreu seinem Image, er kandidiere außer Konkurrenz.

Russland ist - trotz der Vergangenheit Ungarns als sowjetischer Satellitenstaat - Bezugspunkt und Vorbild für Orbán. In diesem Punkt unterscheidet er sich deutlich von seinem polnischen Verbündeten Jaroslaw Kaczynski. 2014 schloss Ungarn mit Russland ein Abkommen mit Russland zur Erweiterung des ungarischen Kernkraftwerks Paks um zwei Blöcke. Dazu garantiert Russland einen Kredit in Höhe von zehn Milliarden Euro. Die wesentlichen Teile dieses Abkommens sind geheim. Orbán will die Freundschaft mit Russland auch als ideologisches Signal verstanden wissen. Mehrfach hat er Bewunderung für Putins autokratisches Machtsystem bekundet. Programmatisch war dabei seine Rede vom Sommer 2014, als er die "illiberale Demokratie" in Staaten wie Russland, Türkei und China lobte.

EU-Bild

Die Beibehaltung der Mitgliedschaft in der EU ist sowohl in Österreich als auch in Ungarn unumstritten: 77 Prozent der Österreicher und sogar 84 Prozent der Ungarn sind dafür. Lediglich 15 Prozent der österreichischen und neun Prozent der ungarischen Befragten plädieren für einen EU-Austritt, zitiert die Österreichische Gesellschaft für Europapolitik zwei Umfragen.

In beiden Ländern stimmt eine Mehrheit der Aussage zu, dass die EU häufig von den heimischen Politikern als Sündenbock benützt wird, um von eigenen Schwächen abzulenken - 69 Prozent in Ungarn, 57 Prozent in Österreich.

Eine Kluft zwischen den Ansichten der Bürger und jenen der politischen Eliten wird in beiden Ländern wahrgenommen - in Ungarn orten das 74 Prozent: Sie stimmen dem "völlig" beziehungsweise "eher" zu, in Österreich insgesamt 61 Prozent.