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Europa braucht Erdogan nicht

Von Benjamin Abtan und Beate Klarsfeld

Gastkommentare

Das Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei ist vollkommen nutzlos.


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Im März 2016 unterzeichneten Kanzlerin Angela Merkel und Präsident Recep Tayyip Erdogan ein Flüchtlingsabkommen, das letztlich ganz Europa betreffen sollte. Zahlreiche Flüchtlinge, vor allem Syrer, versuchten damals nach Europa zu kommen, vor allem nach Deutschland, wo sich in der Öffentlichkeit langsam ein gewisser Widerstand gegen ihre Aufnahme regte. Die nach wie vor geltende Vereinbarung sieht vor, dass die Türkei eine Weiterreise der Flüchtlinge verhindert, im Austausch gegen Milliarden Euro aus Europa.

Um es klar zu sagen: Das Abkommen ist vollkommen nutzlos und wird von Erdogan instrumentalisiert, um Druck aus Europa zu verhindern, während er ein immer autoritäreres Machtgefüge aufbaut und den Nationalismus in Europa schürt. Aus diesen Gründen muss der Vertrag gelöst werden.

Warum der Vertrag nutzlos ist: Tatsächlich hat Europa seit März 2016 seine Mittel für die Kontrolle an seinen Grenzen um einiges erhöht. So wurde beispielsweise von der EU im Oktober 2016 die Europäische Agentur für Küstenwache und Grenzschutz gegründet, um so die Kontrolle an den Außengrenzen verstärken und besser koordinieren zu können. Dotiert mit einem Budget von mehr als 300 Millionen Euro, verfügt sie über mehr als 400 Angestellte, eine schnelle Eingreiftruppe von 1500 Personen, ihre eigene Ausrüstung und die Autorität, im Krisenfall an den Außengrenzen der EU einzugreifen.

Ganz gleich, ob man sich nun eine offenere oder eine restriktivere Politik bei der Aufnahme von Einwanderern wünscht: Europa ist bei der Durchsetzung und Verteidigung seiner politischen Entscheidungen nur in sehr geringem Maße von Drittländern abhängig und wird das in näherer Zukunft noch weniger sein. Und was für die Türkei gilt, trifft auch auf andere Staaten zu, wie zum Beispiel den Sudan oder Eritrea, beides ebenfalls Diktaturen. Kurz gesagt: Wir brauchen sie nicht.

Flüchtlinge als Druckmittel für Erdogan gegen Kurden

Vor allem braucht Europa Erdogan nicht, um das Eintreffen der Flüchtlinge in Europa zu verhindern. Es ist Erdogan, der die Flüchtlinge braucht, die sich im Südosten der Türkei oder auch im "türkischen Kurdistan" niedergelassen haben, um sie für seine Unterdrückungspolitik gegenüber der nationalen Bewegung der Kurden zu benutzen.

Kurzfristig gesehen ermöglicht die Gegenwart der Flüchtlinge im Südosten der Türkei der Regierung, wirtschaftlichen Druck auf die kurdische Bewegung auszuüben. Ihre Schwarzarbeit bedeutet eine Konkurrenz von unten für die Arbeiter der Region. Und letztendlich sind es vor allem die (kurdischen) Gemeinden, die die Budgets für die Flüchtlingslager aufbringen müssen. Mittel- oder langfristig dürfte die Präsenz der Flüchtlinge in dieser Gegend das Kräfteverhältnis gegenüber der kurdischen Bewegung bei Wahlen und in der Politik zugunsten der AKP verschieben.

Tatsächlich wird die sunnitische Bevölkerung mit ihren konservativen Werten, sobald sie die Staatsbürgerschaft besitzt und damit auch das Wahlrecht und beides durch die AKP erlangt hat, eine nicht zu unterschätzende elektorale Unterstützung für die Partei bedeuten. Das erklärt auch, warum die sunnitischen Flüchtlinge einen besseren administrativen Status und Vorteile beim Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen genießen als andere, allen voran die Jesiden, obwohl diese als Opfer eines Genozids gelten. Diese privilegierte administrative Behandlung könnte auch auf einen bevorzugten, wenn nicht sogar exklusiven Zugang zur Staatsbürgerschaft hindeuten - und damit in Zukunft natürlich auch zum Recht zu wählen.

Die Unterdrückung einer nationalen Bewegung und eine Gebietskontrolle durch eine veränderte Zusammensetzung der Bevölkerung ist eine alte Tradition in der Türkei. Das war auch beim armenischen Völkermord von 1915 Kern des Problems, ebenso bei den Massakern und Deportationen der Aleviten von Dersim in den Jahren 1937 und 1938.

Repressalien nehmen zu, Reaktionen sind minimal

Selbstverständlich ist die Aufnahme von Menschen, die vor Krieg und Tod flüchten, nicht mit Massenmord zu vergleichen. Und doch stellt auch diese Aufnahme der Flüchtlinge und ihr Ansiedeln im Südosten des Landes durch die AKP eine Fortsetzung dieser unseligen Tradition des Nationalismus in der Türkei dar.

Abgesehen davon gibt das Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei Erdogan die Möglichkeit, Europa zu erpressen und gewaltsam ein immer autoritäreres Machtgefüge zu errichten, ohne mit Druck oder Sanktionen rechnen zu müssen. Tatsächlich nehmen die Repressalien gegenüber all jenen, die für Menschenrechte und Demokratie kämpfen, von Tag zu Tag immer mehr zu. Dennoch ist der Druck aus Europa nach wie vor minimal, Drohungen oder gar Sanktionen gibt es so gut wie keine - und das, obwohl sie einen erheblichen Erfolg haben könnten.

Die Krise zwischen Russland und der Türkei, die durch den Abschuss eines russischen Flugzeugs im November 2015 ausgelöst wurde, hat das ganz klar bewiesen: Nach der russischen Androhung wirtschaftlicher und kommerzieller Druckmittel, die vor allem den Tourismus betroffen hätten, dauerte es nur wenige Monate, bis der türkische Präsident sich in Moskau entschuldigte und einen ganz anderen Ton gegenüber Russland anschlug, auch politisch gesehen.

Angesichts der starken Bindungen zwischen der Türkei und Europa, vor allem in Bezug auf Wirtschaft, Handel und Tourismus, besteht eigentlich kein Zweifel daran, dass Druck aus Europa Wirkung zeigen würde. Und doch bleiben die Europäer nach wie vor bei ihrem Schweigen und kritisieren auch nicht Erdogans autoritären Auswüchse, aus Angst, das Flüchtlingsabkommen zu gefährden. Mithilfe eines glänzenden diplomatischen Netzwerks blufft der türkische Präsident, der die Schwächen und Befürchtungen der Europäer bestens kennt, mit großer Finesse und entspricht dabei nicht im geringsten seinem sonstigen Image eines irrationalen Regierungschefs.

Er hat die Europäer in eine gefährliche Falle gelockt: Ohne den Druck der Europäer kann er seinen autoritären Plan ohne Gegenwehr durchziehen. Dazu gehört auch eine Zensur, was die staatlichen Machenschaften - vor allem jene der Armee - im Südosten der Türkei betrifft. Das Fehlen von Informationen darüber macht es den Europäern auch so schwer, Erdogans Abhängigkeitsverhältnis von den Flüchtlingen in dieser Region wirklich zu verstehen. Und gerade diese Unkenntnis erlaubt es ihm, die Europäer mit den Flüchtlingen zu erpressen und jegliche Aussicht auf Druck oder Sanktionen zu vermeiden.

Und das beweist ein mangelndes Verständnis und eine gewisse Schwäche der Demokratien Europas gegenüber dieser möglichen Diktatur vor ihrer eigenen Haustür - eine Schwäche, die im Kontrast zur Machtdemonstration des Regimes steht. Das wiederum macht autoritäre Regimes reizvoller, auf Kosten der liberalen Demokratien, und nährt den Nationalismus in Europa.

Auflösung des Abkommens und mehr Druck aus Europa nötig

Unterschwellig bedeutet das Abkommen auch einen Mangel an Souveränität der Europäer, die nicht in der Lage sind, der von ihnen gewählten Politik ohne die Hilfe von Staaten wie der Türkei Respekt zu verschaffen - und das ist ein Schlüsselelement in der nationalistischen und antieuropäischen Argumentation, die durch die Aufrechterhaltung des Abkommens nur verstärkt wird. Man kann hier genau erkennen, dass die Verbindung von Islamismus und Nationalismus, wie sie die AKP in der Türkei vertritt, und auf der anderen Seite der Nationalismus in Europa einander gegenseitig Nahrung geben.

Deshalb muss das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei beendet werden. Die Auflösung des Vertrags muss außerdem von europäischem Druck begleitet werden, damit die Verfolgung all derer ein Ende hat, die sich in der Türkei für Demokratie und Menschenrechte einsetzen. Diese Demokraten fordern Sanktionen gegen ihr Land und weitere Verhandlungen mit der EU, um ein Umschwenken der Türkei in die Diktatur verhindern zu können. Wir sollten ihre Forderungen erhören und unterstützen. Deshalb appellieren wir an die Bürger und die politischen Parteien, in diesem Sinne eine klare Position zu beziehen.

Was hier auf dem Spiel steht, sind die Freiheit und zum Teil auch das Leben zehntausender Demokraten in der Türkei. Es geht um die Zukunft der Demokratie, dort ebenso wie hier bei uns.

Beate Klarsfeld ist Journalistin und Unesco-Sonderbotschafterin für Bildung über den Holocaust und die Verhinderung von Völkermorden.

Benjamin Abtan ist Gründer und Präsident des European Grassroots Antiracist Movement (Egam) und Koordinator des Elie Wiesel Netzwerks von Parlamentariern für die Verhinderung von massiven Gräueltaten und Völkermorden sowie deren Leugnung.