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Europa braucht Konflikt mit USA

Von Egon Matzner

Politik

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"Gemeinsame Werte" und "Globalisierung" sind die zwei Schlüsselbegriffe, mit denen seit einiger Zeit über die Welt geredet und Politik gemacht wird. Wer in der Welt halbwegs zurecht kommt, wer gar zu den politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Establishments gehört, wird sich durch den Hinweis auf "gemeinsame Werte" angesprochen fühlen und für "Globalisierung" sein. Wer hingegen beide in der gegenwärtigen Form, kritisch betrachtet, oder gar generell ablehnt, befindet sich in Opposition zu dieser Welt. So dienen die beiden Schlüsselbegriffe als untrüglicher Lackmus-Test, mit dessen Hilfe "gut" von "böse" und "modern" von "gestrig" unterschieden werden, ein gerader Weg zum binären Terror des "Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich".

"The World We're In", nennt der britische Publizist Will Hutton vom Londoner Observer sein unlängst in London erschienenes Buch. Der Autor, zeigt darin, dass die Welt doch nicht so einfach gestrickt ist. An Hand vieler Fakten und Argumente weist er nach, dass die beiden Schlüsselbegriffe des Zeitgeistes wesentliche Züge der Wirklichkeit verdecken. Die wichtigsten davon werden in sieben Thesen zusammengefasst.

These 1:

Unterschiedliche "gemeinsame" Werte: Zwar verbinden die westliche Welt und alle, die dazugezählt werden wollen, wichtige Werte wie die Herrschaft des Rechts, die Verpflichtung zu Demokratie, und Religionsfreiheit und die Idee, dass Unternehmerwirtschaft eine erfolgversprechende Form Vermögen schaffenden Wirtschaftens sei. Entgegen den Beteuerungen der maßgeblichen Politiker in der EU und vieler prominenter Medien-Vertreter, hält Hutton die "Gemeinsamkeit" der in den USA und in Europa Politik und öffentliches Leben prägenden Werte in drei wesentlichen Punkten für nicht gegeben.

Es sind dies erstens das Eigentum, das in Europa mit sozialen Pflichten verbunden ist. Diese Idee ist dem feudalen Eigentum wie der katholischen Soziallehre und den sozialistischen Theorien wesentlich. In den USA hingegen begründet Eigentum persönliche Unabhängigkeit; es steht dem Vernunftbegabten und Fleißigen uneingeschränkt zu. Dies sei "gottgewollt" und ist Teil des amerikanischen Gründungsmythos.

Zweitens zählt dazu die Geltung eines Gesellschaftsvertrages. In der europäischen Tradition bindet dieser alle Bürger ein. Er verlangt nach Fürsorge für die Schwächeren und Vorsorge für Notfälle. In den USA widerspricht solche Umverteilung dem Gründungsmythos, ist gleichsam Vergehen "wider die Natur". Habgier gilt als gut, denn Reichtum "tröpfle" auf die Armen "herunter".

Drittens betrifft dies die öffentliche Sphäre, die allen europäischen Ländern gemeinsam ist. Die Idee der res republica umfasst den öffentlichen Raum wie die öffentlichen Angelegenheiten. Anders als nach der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre in dem von Roosevelt durchgesetzten New Deal ist diese Idee heute in den USA nicht mehr wirksam. Mit der Präsidentschaft Reagans ist die Periode des Wohlfahrtskapitalismus 1980er zu Ende gegangen.

These 2:

"Globalisierung" ist Amerikanisierung. Für Hutton ist Globalisierung, wie sie sich seit einem Vierteljahrhundert entfaltet, keineswegs ein Phänomen, das sich aufgrund der Revolutionierung der Kommunikations- und Informationstechnologie sowie der Liberalisierung der Finanzmärkte gleichsam naturgesetzlich entfaltet. Sie ist vielmehr ein politisch angestoßener und durchgesetzter Prozess. Mittlerweile spricht es sich herum, dass dieser vornehmlich von den USA im Interesse deren wirtschaftlich führenden Sektoren vorangetrieben wird. Hutton verweist auf die entsprechenden Entscheidungen.

Die Amerikaner müssen sich dabei immer auf Partner stützen. Sehr oft sind dies die EU und ihre Mitgliedsstaaten. Seit dem Beginn der 80er Jahre nennt man die wichtigsten Regeln, nach denen "globalisiert" wird, den Washington Consensus. Diesem zufolge soll weltweit vorrangig (1) monetäre Stabilität herrschen, (2) liberalisiert und dereguliert, sowie (3) privatisiert werden. Die Rolle des Staates soll sich darauf beschränken, Recht und Ordnung sowie Standortförderung zu garantieren.

Die Ideen des Washington Consensus finden sich erstmals 1979 in einem Manifest des konservativen US Business Round Table. (Hutton S. 106). Lediglich Legitimation und Logo stammen von einstmaligen "social liberals"

These 3:

Zurück zum amerikanischen Gründungs-Mythos. Die Werte, die gegenwärtig die Globalisierung prägen, entsprechen der Vorstellungswelt der ersten Siedler der USA. Sie wurden unter anderem nach 1945 von dem aus Deutschland stammenden politischen Philosophen Leo Strauss (1899 bis 1983), Lehrer in Chicago und an vielen anderen Universitäten, wiederaufbereitet. Heute steht der Harvard Philosoph Robert Nozick für diese rückwärtsgewandte Vision. Die wirtschaftspolitischen Vorlagen lieferten die späteren Nobelpreisträger Milton Friedman und Friedrich A. v. Hayek. Der erste politische Vertreter dieser Ideologie war der republikanische Präsidentschaftskandidat Barry Goldwater. 1964 verlor er vernichtend gegen den Demokraten Lyndon Johnson. Seine Nachfolger Reagan sowie Bush Vater und Bush Sohn sind mit einem solchen Programm an die Hebel der stärksten Macht der Welt gelangt.

These 4:

Globalisierung des Konservativismus. Dem kritischen Betrachter drängt sich die Frage auf, warum diese erzkonservative Ideologie ohne Widerstand übernommen wurde: in den USA von den einstmals sozial gesinnten liberalen Demokraten sowie in Europa von den Sozialdemokraten und vormaligen Kommunisten. Die Slogans der Protagonisten des Dritten Weges lassen dabei keine Zweifel aufkommen. So erklärte Clinton 1996, als er das republikanischen Sozialabbau-Programm übernahm: Die Republikaner reden nur darüber - wir erfüllen es...

Hutton erklärt den Beginn des Siegeszug der konservativen US-Ideologie mit dem Ende der Koalition zwischen den sozialfortschrittlichen Demokraten des Nordens und den sozial aufgeschlossenen, aber gleiche Bürgerrechte für die Amerikaner mit schwarzer Hautfarbe ablehnenden Demokraten des Südens. Der Bruch tritt in dem Augenblick ein, in dem ein demokratischer Präsident 1964 den Civil Rights Act unterzeichnet. Lyndon Johnson kommentierte ihn mit dem Wort: "Jetzt hat die Demokratische Partei den Süden verloren." (Zitiert bei Hutton S. 88).

Weswegen Sozialdemokraten und Linksparteien in Europa voll auf die konservative Globalisierung setzen, versucht Hutton am Beispiel Großbritanniens zu beantworten. Blair ging es mit New Labour vor allem darum, den damals erfolgreichen Weg Thatchers, neu phrasiert, weiterzugehen. Die Wähler sind ihm dabei in größerer Zahl gefolgt als seinen blassen, konservativen Konkurrenten. Blair, der auch intellektuell Ehrgeizige, ist bis heute davon überzeugt, dass der britische wie auch der europäische Kapitalismus ohne US-Impulse nicht "dynamisiert" werden können. Er versucht damit, zwei unvereinbare Wertesysteme, den Konservativismus amerikanischer Prägung und eine modernisierte europäische Sozialdemokratie zu vermählen. Nach Hutton ist dies "ein Vorhaben, das zum Scheitern verurteilt ist." (S. 229)

Der 1998 erfolgreiche Schröder (sein Leitspruch: "Wir werden nicht alles anders, aber alles besser machen.") wie der 1999 gescheiterte, damalige Vorsitzende der SPÖ, Viktor Klima, haben lediglich versucht, sich an das erfolgreiche Beispiel zu halten. Eine überzeugende Antwort auf die Frage, warum die europäischen Eliten aller Couleurs wichtige europäische Werte widerstandslos aufgegeben haben, findet man auch bei Hutton nicht, wohl aber die Prognose, dass der Dritte Weg zum Scheitern verurteilt ist.

These 5:

Destruktiver Konservativismus. Hutton belegt an zahlreichen Beispielen, dass die dem konservativen US-Kapitalismus zugeschriebenen Errungenschaften entweder gar nicht existieren oder für Europa nicht attraktiv sind. So kommt es in den USA zwar zu einer ungeheuerlichen Bereicherung, aber es "tröpfelt" wenig zu den Armen "herunter", zu denen immer mehr die ehemaligen Mittelschichten zählen. So ist trotz Flexibilisierung des Arbeitsmarktes die soziale Mobilität geringer als in den Ländern der EU mit ihren vielbeklagten "Rigiditäten". So ist die Maximierung des Shareholder Value (des Börsenwertes der Aktien) als dominantes Unternehmensziel der Pflege von Humankapital und Innovationsvermögen abträglich. Beide sind aber für den langfristigen Unternehmenserfolg entscheidend.

Die vielgerühmte US-Börse dient weniger der Ausweitung des Produktivvermögens als der Finanzierung der Übernahme von Unternehmungen, wobei in mehr als der Hälfte der Fälle mehr Wert zerstört als geschaffen wird. (Die durch den Kursverfall der letzten zwei Jahre vernichteten 6 Trillionen US-Dollar sind in diesem Betrag nicht enthalten.) Hutton demonstriert das am Niedergang der Innovationskraft von Boeing und deren Entfaltung bei Airbus, zwei Musterbeispiele, die für europäische und amerikanische Unternehmenskultur stehen.

In der (noch) dominierenden Wahrnehmung der Wirklichkeit werden die vergleichsweise schlechten Ergebnisse der USA als "gutes" Beispiel zur Nachahmung empfohlen. Die guten europäischen Leistungen werden hingegen als "schlecht" zur Seite geschoben. Seit dem Gipfel von Lissabon will die EU die USA im wirtschaftlichen Wettbewerb übertreffen. Übersehen wird dabei, dass die EU wirtschaftlich schon längst stärker ist als die USA. Das lässt sich am Defizit der US- Leistungsbilanz gegenüber der EU ablesen.

Tony Blair und die anderen Promotoren der Globalisierung nach amerikanischer Spielregeln sind Gefangene ihrer selektiven Wahrnehmung. Sie deckt sich mit jener Ideologie, die permanent auf jeden Bürger einströmt und sich dabei gleichsam als globaler "common sense" präsentiert.

These 6:

Für einen europäischen Kapitalismus. Deshalb setzt Hutton dem destruktiven amerikanischen Konservativismus die Idee eines europäischen Kapitalismus entgegen. Europa solle seine gemeinsamen, sich von den USA unterscheidenden Werte weiterhin zur Geltung bringen. Der europäische Weg hat schon bisher komparative kulturellen Vorteile erfolgreich nutzen können. Es gibt keinen Grund, weswegen das in der Zukunft nicht der Fall sein kann.

Globalisierung nach US-Spielregeln entspricht ja weder aufgeklärtem Denken, noch anderen europäischen Traditionen, seien diese konservativen, christlichen, liberalen oder sozialistischen Ursprungs. Dabei darf die Idee der öffentlichen Sphäre nicht mit Sozialismus gleichgesetzt werden. Der europäische Sozialismus hat zwar die Idee der öffentlichen Angelegenheiten für sich zu monopolisieren versucht. Die Vermengung von sozialistischen Zielen mit res publica hat beiden Anliegen nicht gut getan.

Zu 7:

Der Konflikt mit den USA ist unvermeidbar - wenn Europa europäisch bleiben will. Bisher haben die Europa-Politiker aller Schattierungen, zum Beispiel bei den EU-Räten, sich eifrig für die amerikanischen Spielregeln der Globalisierung ausgesprochen. Die US Ökonomie gilt ihnen sogar als die "bench mark economy". Hutton plädiert entschieden für einen Kurswechsel. Es ist wesentlich, dass er dies ohne antiamerikanisches Sentiment tut. Hutton empfiehlt mit Nachdruck, dass Großbritannien seine special relations mit den USA aufgibt und sich eindeutig für Europa entscheidet. (Es ist vielsagend, dass etwa zur gleichen Zeit Baroness Margareth Thatcher Großbritannien den Austritt aus der EU und den Beitritt zur Nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA empfiehlt.) Hutton ist einer der ersten Pro-Europäer von Rang, der es wagt, den existierenden Konflikt mit den USA offen auszusprechen, ja ihn offensiv zu führen empfiehlt. (Leise Anklänge dazu finden sich bei Helmut Schmidt, "Die Selbstbehauptung Europas". München 2000.)

Entgegen allen pessimistischen Analysen wäre eine Auseinandersetzung mit den USA durchaus mit Aussicht auf Erfolg zu führen. Denn selbst die mächtigste Militär- und Wirtschaftsmacht der Welt kann wenig ausrichten, wenn sich die Partner verweigern. Sie sind zu kooperieren verurteilt, wenn sie erfolgreich sein will. Diese These wird von Joseph S. Nye Jr. In seinem Buch "The Paradox of American Power" (Oxford 2002) vertreten. Die USA brauchen die EU vermutlich mehr als die Europäer die USA. Der Harvard-Professor und frühere Staatssekretär im US-Verteidigungsministerium wird wissen, wovon er spricht. Fragen von diesem Gewicht werden von Hutton aufgeworfen. Man kann dieses Buch allen politisch Interessierten zur Lektüre empfehlen.

Der Autor war Professor für Finanzwissenschaften an der TU-Wien und lebt zur Zeit in Tunis. Texte zum Thema Globalisierung in einer monopolaren Welt sind auf seiner Homepage http://members.aon.at/egonmatzner zu finden.