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Europa darf das neue Momentum nicht verschlafen

Von Vedran Dzihic und Paul Schmidt

Gastkommentare
Vedran Dzihic ist Senior Researcher am Institut für Internationale Politik (OIIP).
© oiip

Es ist kein guter Moment für politische Schlafwandler, sondern höchste Zeit, dem europäischen Integrationsprojekt in all seinen Facetten zentrale Priorität einzuräumen.


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Am 24. Februar ist Europa in einer neuen Realität aufgewacht. Der bisherige Verlauf des Krieges und die begleitende Propaganda, die aus dem Kreml kommt, zeigen deutlich: Wir haben es hier mit einem Angriff auf die freie Welt zu tun. Wladimir Putins Invasion in der Ukraine ist ein Wendepunkt für die Geschichte Europas. In den ersten Wochen des Krieges präsentierten sich der Westen und die EU unerwartet entschlossen und einheitlich. Mit der Dauer des Krieges wird die westliche Einheit jedoch immer mehr herausgefordert werden. Die jüngsten Debatten um den Stopp der russischen Energieimporte sind dabei erst der Anfang.

So sehr wir hoffen mögen, dass das menschliche Leid der ukrainischen Bevölkerung sofort aufhört, verstehen wir, dass der Prozess der Auflösung der europäischen Nachkriegsordnung gerade erst begonnen hat. Die Auswirkungen des Krieges verändern unseren Kontinent und fordern die Europäische Union, ihre Mitgliedstaaten und Partnerländer auf, über den Tellerrand hinaus zu denken und sich an die neuen Realitäten rasch anzupassen und neu aufzustellen.

Eine der Fragen, die nun wieder ganz oben auf der Tagesordnung der EU stehen, ist ihre Erweiterung, die vor dem Krieg in der Ukraine lange Zeit in einem bürokratisch-technokratischen Dornröschenschlaf lag. Die Beitrittsansuchen der Ukraine und auch der Republik Moldau und Georgiens zeigen nun, dass die Geopolitik wieder stärker in den Vordergrund tritt. Die Ukraine drängt auf eine europäische Perspektive, und diese verdient sie auch, denn in ihrem Kampf gegen die russische Invasion werden auch Europa und die europäischen Werte verteidigt.

Für eine neue Nachbarschafts- und Erweiterungspolitik der EU

Die Staaten des Westbalkans, die zu bereits lange in der Warteschleife für den EU-Beitritt verweilen, sind aber ebenso Teil dieses großen geopolitischen Puzzles. Auch dort tummeln sich leider-nicht-demokratische Großmächte wie etwa China oder Russland, fordern direkt oder indirekt die EU, den Westen und die Demokratie heraus und finden durchaus auch Partner dafür. Serbiens starker Mann, Präsident Aleksandar Vucic, laviert weiterhin zwischen dem Druck aus dem Westen, sich an Sanktionen gegen Russland zu beteiligen, und den vermeintlichen Sympathien breiter Bevölkerungsteile für Putin beziehungsweise seiner intimen Vorliebe für das chinesische Staats- und Wirtschaftsmodell. In der Republika Srpska in Bosnien und Herzegowina wiederum ist das Zündeln des pro-russischen Ex-Präsidenten Milorad Dodik zum Dauerzustand geworden und bedroht die Stabilität des Landes.

Es ist kein guter Moment für politische Schlafwandler, sondern höchste Zeit, dem europäischen Integrationsprojekt in all seinen Facetten - von der Ukraine über die Moldau und Georgien bis zum Westbalkan - zentrale Priorität einzuräumen und eine radikale Neubewertung der Europäischen Nachbarschaftspolitik und des stagnierenden EU-Erweiterungsprozesses vorzunehmen.

Die derzeitigen EU-Beitrittskandidaten des Westbalkans befinden sich seit Jahren in einer Art Wartezone zur EU, die, begleitet von einem selbstinduzierten politischen Reformstillstand, vielerorts in der Region zum Aufstieg autoritärer Tendenzen geführt hat. Die Blockade der EU-Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien hat das Vertrauen der dortigen Bevölkerungen in die EU beschädigt. Die jüngsten Meinungsumfragen aus Serbien zeigen, dass zum ersten Mal seit dem Beginn des Annäherungsprozesses die Mehrheit der serbischen Bevölkerung gegen den EU-Beitritt ihres Landes ist.

Brandgefährlicher Stillstand auf beiden Seiten

Der Stillstand auf beiden Seiten ist also gerade jetzt brandgefährlich. Daher gilt es nun, innerhalb der EU die Voraussetzungen für eine glaubwürdige Beitrittsperspektive zu schaffen, Blockadehaltungen einzelner Mitgliedstaaten zu überwinden und dabei nationalistisch begründeten Erpressungsversuchen, wie sie die bulgarische Regierung gegenüber Nordmazedonien an den Tag legt, ein Ende zu setzen. Die Übernahme russischer Narrative durch Serbien muss ebenso klar verurteilt werden wie die anhaltenden Versuche, die territoriale Integrität von Bosnien und Herzegowina zu untergraben.

Die EU lernt gerade, ihre beträchtliche Wirtschaftsmacht politisch einzusetzen, und diese Lehren sollte sie für eine proaktivere Politik gegenüber dem Westbalkan vorausschauend nutzen, um nicht erst von destabilisierenden Entwicklungen vor Ort geweckt zu werden. Spätestens beim nächsten Westbalkan-Gipfel sollte sie Nägel mit Köpfen machen: nämlich die längst überfälligen EU-Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien aufnehmen und die Visa-Pflicht für den Kosovo schnell aufheben. All dies sind eigentlich überfällige Hausaufgaben für die EU-27.

Darüber hinaus braucht es ein klares und glaubwürdiges Verpflichtungssignal aus Brüssel, ein Aufwachen aus der bürokratisch-technokratischen Starre. Die EU braucht Klarheit darüber, was sie selbst mit dem Erweiterungsprozess erreichen kann, und muss den Reformdruck auf die Länder am Westbalkan erhöhen. Denn ein weiteres Abdriften des Westbalkans von Europa wäre derzeit mehr als kontraproduktiv, wenn nicht dramatisch.

EU-Integration geschieht nicht über Nacht

Eine gemeinsame geopolitische "Europäisierung" der Länder des Westbalkans zusammen mit der Ukraine, Moldau und Georgien muss zu einer politischen Priorität der EU werden. Im Konkreten heißt das, dass man sich von einem höchst bürokratischen und anspruchsvollen Prozess, der einen Großteil der politischen Prämie bis zum Ende aufschiebt, verabschiedet und stattdessen eine sukzessive Eingliederung in EU-Politiken ermöglicht. Das bedeutet nicht, Konditionalität und Reformen abzuschaffen, sondern mehr Anreize dafür zu schaffen, während wir lernen, europäische Interventionen auch besser auf Reformen auszurichten.

EU-Integration geschieht nicht über Nacht, und all diese Staaten werden bis zum Vollbeitritt als finalem Ziel ihrer Reform- und Integrationsreise noch viel Zeit benötigen. Auf diesem Weg braucht es aber sicht- und greifbarere Möglichkeiten, das Leben der Menschen zu verbessern, und auch den Mut, politische Schritte zu setzen, die jetzt bereits zu partieller Integration dieser Staaten in den EU-Binnenmarkt und ihre Partizipation an großen europäischen Programmen sowie Strukturfonds der EU führen können.

Die EU lernt nun mit dem Ukraine-Krieg auf schnelle Art, dass enge Handelsbeziehungen kombiniert mit Beschwichtigungen in Richtung illiberaler Despoten nicht ausreichen, um einen gewünschten politischen Wandel voranzutreiben. Wirtschaftliche Macht muss politisch eingesetzt und eine klare sowie wertebasierte politische Vision entschlossen und mutig vorangetrieben werden. Am Beginn des Krieges in Ex-Jugoslawien in den 1990er Jahren sprach man von der "Stunde Europas", die aber nie schlug. Angesichts der größten Bedrohung für den Frieden in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ist jetzt aber die Stunde Europas gekommen. Die Chance einer unabhängigen, demokratischen und geopolitischen Union, die ihre europäischen Nachbarn mit offenen Armen empfängt, darf jetzt nicht verpasst werden.

Der vorliegende Text entstand im Rahmen des dreijährigen Projekts "Western Balkans 2 EU" der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik und des Österreichischen Instituts für Internationale Politik zur Unterstützung und Vernetzung der Länder des Westbalkans, kofinanziert durch die EU-Kommission im Rahmen ihres "Erasmus+ Jean Monnet Programms" (www.wb2eu.eu).