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Ein Krieg im Irak ist zwar eine langfristige Weltkatastrophe - Destabilität im Osten und Südosten Europas trotzdem keine zweitrangige Gefahr für unseren Lebensraum. Der Mord am serbischen Ministerpräsidenten hat sie dramatisch deutlich gemacht.
Schön wäre es, wenn Europa eine Ansprechpartnerin wäre mit menschlichen Elementen, so wie ihre mythologische Namensgeberin. So aber richtet sich jeder Appell, jeder Notruf an etwas Anonymes, Ungewisses, Schwebendes, das keine Antwort gibt - muss das so sein? Unsere Politiker fiebern, gebannt wie das Kaninchen vor der Schlange, den täglichen mehr oder weniger gleich lautenden Berichten entgegen über das Ja oder Nein einer UN-Resolution, von deren Wirkung, wie auch immer sie lauten werde, niemand überzeugt sein kann. Inzwischen aber zündeln Radikalismen im Schatten des Vergessenseins in den Krisenregionen Südosteuropas.
Als in Belgrad kürzlich die nationalistische Sprache des abhanden gekommenen jugoslawischen Präsidenten Kostunica aufgewärmt wurde, erregten sich im Kosovo verständlicherweise die politischen Akteure der Albaner. In Mazedonien, wo ein halbherziges "Abkommen von Ohrid" seine westlichen Architekten in der Illusion wiegt, jetzt sei alles in Ordnung - sie jedenfalls hätten gute Arbeit geleistet -, steigen innere Spannungen. Dieses Mal zwischen "Falken" und "Tauben" innerhalb der albanischen Bevölkerung. Derartige Konflikte haben bekanntlich die Tendenz grenzüberschwappend zu eskalieren. Unzufriedene und Enttäuschte lassen sich leicht motivieren zum Schießen. Unter den neuen EU-Kandidaten entwickeln sich unterschiedliche Positionen zu den USA des Präsidenten Bush, und damit auch zur EU. Eine Entwicklung, die wir nicht überhören oder übersehen sollten - nicht nur, weil sie das Gegenteil vom Ziel der verstärkten Zusammenarbeit dieser Staaten untereinander bedeutet, sondern weil sie zeigt, dass in der Beziehung zur EU etwas nicht in Ordnung ist. Das hat der Mord in Belgrad unzweideutig vor Augen geführt. Wobei Korruption und kriminelle Verflechtungen zwischen Politik, Justiz, Kommerz und purer Mafia keineswegs nur in Serbien zu registrieren sind - wir müssen lernen besser vor Ort zu beobachten als bisher!
All das geschieht in einer Phase, in der sich die bisher allgegenwärtigen USA aus der Balkanregion zurückziehen. Es wird mit Recht von Europa erwartet, das entstehende Vakuum seinerseits auszufüllen. Mancherorts - wie z.B. in Bosnien-Herzegowina im Rahmen der internationalen Polizei - ist ein solcher Prozess bereits im Gange. Manchmal u. a. nur damit, dass Vertretungen von Pristina nach Belgrad verlagert werden, was nicht auf politisches Fingerspitzengefühl zurückzuführen sein kann. Es drängt sich mit aller Macht die Frage auf: Hat Europa für die gegenwärtige Situation ein Konzept?
Was für eine Chance für Europa! Vorausgesetzt, sie wird verstanden, wird ergriffen. Wir brauchen nicht amerika-feindlich zu sein, um zu erkennen, dass es für Amerikaner unverhältnismäßig schwieriger ist, die Mentalität der Menschen vor allem in Südosteuropa zu verstehen, die sowohl europäisch geprägt sind als auch von einer eigenen, einer anderen historischen Erfahrung. Während die Amerikaner, auf deren Boden es seit rund 200 Jahren keine Kriege gegeben hat, die "Erfolg" als Maxime haben und an eine "heilte Welt", in der jeder weiß, was gut und was böse ist, glauben - sind wir Europäer skeptischer, weniger von uns selbst überzeugt und - zumindest in unseren besten Momenten - auch eher bereit, denen die anders sind zuzuhören.
So wurden seit dem Zerfall der kommunistischen Regime von internationaler Seite Parolen geprägt und nachgeeifert wie "Erst Rechtsstaat, dann Investitionen", und "Erst Standards, dann Status". Ohne jede Rücksicht darauf, in welcher Verfassung die Gesellschaften, die staatlichen Systeme, die einzelnen Menschen sich befanden und meist ohne jegliche Vorkenntnis historischer Zusammenhänge. Es beeindruckte die Vertreter der internationalen Institutionen in den letzten zehn Jahren nicht, dass Arbeitslosigkeit, Armut, Krankheit, Perspektivenlosigkeit unentwegt wuchsen - dass Selbstmordraten unter Jungen und Alten stiegen, dass die fähigsten Köpfe auswanderten oder im Lande selbst für Fremde ihre Energie einsetzen.
Mit anderen Worten: Europas Aufgabe muss heute darin bestehen, verloren gegangenes Vertrauen aufzubauen - in der klaren Erkenntnis, dass ohne Vertrauen keine gemeinsamen Interessen und Aufgaben angegangen werden können. Wenn das aber nicht der Fall ist, dann wird es auch keinerlei Form eines gemeinsamen Europa geben können. Wir müssen künftig gegenüber unseren Gesprächspartnern in der Region die Sprache der Partnerschaft finden - nicht, wie es bisher geschah, mit und ohne amerikanischen Einfluss, von oben herab belehren zu wollen. Es kann nicht das Ziel sein, aus den anderen Ländern Kopien unserer eigenen Gesellschaften heranbilden zu wollen. Unseren Partnern für morgen müssen wir - in ihrem ureigensten Interesse - vermitteln, dass jeder Einzelne der Staaten ein Schlusslicht im künftigen Europa bleiben würde, wenn es keine Verständigung mit uns über den Weg dorthin geben sollte. Verständigung aber heißt: Verstehen lernen und fähig sein anzunehmen.
Wir müssen den anderen aber helfen - nicht im humanitären sondern im rational begründeten Sinn, wir wollen sie nicht ausbeuten, aber dennoch zu unseren wirtschaftlichen Gewinnen kommen können. Wir haben (hoffe ich zumindest) in jüngster Zeit begriffen, dass in allen Ländern die Entwicklung von Produktionen absoluten Vorrang haben muss. Ohne unsere Hilfe im Anfang geht das nicht. Mit Phantasie und Flexibilität können Kleinstprojekte von westlichen Institutionen, auch Firmen, finanziell unterstützt - und begleitet werden. Am Schluss wird es schwarze Zahlen und Zusammenarbeit geben. Wir müssen Perspektiven bieten und Verständnis beweisen für die sozialen Nöte, die der Übergang von der (nicht funktionierenden) Planwirtschaft in eine (noch nicht wirklich existente) Marktwirtschaft mit sich gebracht haben. Vertrauen in die eigene Staatlichkeit kann nur dann entstehen, wenn dieser Staat auch die Möglichkeit bekommt, seine sozialen Aufgaben erfüllen zu können.
Wir Europäer können eher die mentalen Folgen verstehen bei Menschen, die vom Kommunismus geprägt wurden, der ihnen jede individuelle Initiative abnahm und damit auch die Erfahrung der eigenen Verantwortung. Trotzdem bot er ein Minimum an sozialer Sicherheit - während heute so gut wie jedes soziale Netz für die Bedürftigen fehlt. Die einzige Partei war für alles zuständig - nicht der Staat. Der Staat war in den Vorstellungen der Menschen entweder "Nichts" oder negativ besetzt, weil er im wesentlichen nur willkürliche Macht repräsentierte - wiederum im Auftrag der einzigen Partei..
Wir Europäer müssen außerdem verstehen, dass "Korruption" nicht etwa ein ererbter Charakterzug der Menschen Südosteuropas ist - sondern eine Folge von schlechter Bezahlung, von enormen sozialen Unterschieden zwischen Reich und Arm, von fehlender Anerkennung für individuelle Leistung. Manches was wir in diesem Zusammenhang "Korruption" nennen, kennen wir in den eigenen Reihen als "Provision". Wenn Arbeit gerechter bezahlt wird, wenn der Staat beweisen kann, dass er soziale Gerechtigkeit zumindest anstrebt, die einzelnen Menschen eine Perspektive sehen - dann erst kann damit gerechnet werden, dass Vertrauen, Loyalität und Einsatzbereitschaft entstehen können. Und Korruption abnimmt.
Nicht Bürokratie und Überheblichkeit, gepaart mir Phantasielosigkeit und Mangel an Entschlussfähigkeit sollten das Image der EU prägen, wenn je das Ziel der gemeinsamen Wirtschaftsinteressen, der eigenen Sicherheitsvorstellungen, des gemeinsamen politischen Agierens näher rücken sollte. Wir sollten Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, soziales Verständnis, Toleranz, Wettbewerbsbereitschaft in der Wirtschaft hochhalten und vorleben - nur dann kann von einer Europäischen Union, die vielfältig und bunt "einander leben lässt", die Rede sein.
Wie wäre es, wenn die Verantwortlichen in der europäischen Politik und Wirtschaft, unter Mitarbeit von Experten, die nicht wie die amerikanischen "think tanks" aus der Theorie analysieren, sondern Leben und Vergangenheit, Sprache und Menschen der künftigen Mitgliedsländer bestens kennen, gemeinsam ein Konzept für morgen entwickelten? Es könnte z.B. zu einer neuen "Balkan-Konferenz" kommen, bei der nicht nur Regierungsvertreter der betroffenen Länder, sondern auch ihre nicht-prominenten, nicht-privilegieren Interessenvertreter mit uns am Tisch sitzen - das würde Leben in die Politik und die Wirtschaft und soziale Entwicklung bringen können! Und Vertrauen aufbauen.
Dem steht das Horrorszenario gegenüber: Die EU tümpelt weiter vor sich hin....
...und merkt es nicht einmal.