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Europa droht die Bürger zu verlieren

Von Walter Hämmerle

Europaarchiv
Getrennt in der Sache, vereint im Ziel: Heinrich Neisser und Hannes Swoboda (r.) im Streitgespräch. Foto: Andreas Urban

Swoboda: "Demokratie heißt nicht, ständig abstimmen." | Neisser: "Die EU braucht Mitbestimmung der Bürger." | Schelte für Parteien und Regierung. | "Wiener Zeitung": Am Mittwoch werden SPÖ , ÖVP und Grüne den EU-Reformvertrag von Lissabon ratifizieren. FPÖ, BZÖ und diverse linke Gruppen fordern dagegen eine Volksabstimmung. Auch Sie, Herr Neisser, treten für eine Volksabstimmung ein. Mit welchen Argumenten?


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Heinrich Neisser: Die EU-Integration muss den Bürgern - unabhängig von der Frage der rechtlichen Notwendigkeit einer Volksabstimmung - nahe gebracht werden. Man kann nicht immer von Bürgernähe reden, den Menschen dann aber keine Möglichkeit geben, zu einem sehr substanziellen Schritt Stellung zu beziehen. Der Reformvertrag ist eine wesentliche Etappe im Einigungsprozess, auch wenn er formal keine Verfassung geworden ist.

Hannes Swoboda: Man kann keine Volksabstimmung ansetzen, wenn man nicht zuvor täglich gezeigt hat, wozu die EU da ist. Das ist aber leider nicht passiert. Und es kann keine seriöse Diskussion geben, wenn ein nicht unwesentlicher Teil der Medien massiv einseitig berichtet. Als ich Wiener Planungsstadtrat war, da wollte auch jeder, der gegen ein Projekt war, darüber abstimmen. Demokratie heißt aber nicht permanent abzustimmen. Demokratie ist die tägliche Auseinandersetzung mit Argumenten. Schlussendlich sind Politiker dazu da, nach einer Wahl Entscheidungen zu treffen und dafür auch die Verantwortung zu übernehmen, indem sie ihre Entscheidungen auch vor den Bürgern vertreten.

Neisser: Ich bin, was den Ausgang einer Volksabstimmung betrifft, gar nicht so pessimistisch. Auch beim Referendum über den EU-Beitritt 1994 gab es einseitige Argumente, und trotzdem kam eine Zweidrittel-Mehrheit zustande. Aber es stimmt schon, dass man jetzt die Rechnung für jahrelange Versäumnisse präsentiert bekommt. Und seit die Politiker wissen, dass nur im Parlament abgestimmt wird, findet überhaupt keine relevante europapolitische Aussage mehr statt. Ich habe den Verdacht, dass es Regierungen und Parlamenten sehr recht ist, dass es keine Volksabstimmung gibt. Dadurch ersparen sie sich den mühsamen Aufwand, den Menschen Europa näher zu bringen.

Swoboda: 1994 war die Mediendebatte ausgeglichen, auch die "Krone" hat annähend ausgewogen berichtet. Damals wurde auch über unseren Beitritt entschieden, jetzt steht der gesamte europäische Prozess auf dem Spiel. Es wäre etwas anderes, wenn man eine EU-weite Volksabstimmung durchführen könnte, aber dafür gibt es keine Grundlage. Im Übrigen war die Volksabstimmung von 1994 eine Richtungsentscheidung. Und ich kann nicht jedesmal, wenn die Richtung ein bisschen verstärkt wird, eine eigene Entscheidung treffen. Das wäre angesichts der herrschenden Stimmungen eine Blockade des Integrationsprozesses. Da wäre es schon ehrlicher, man sagt, dass man aus der EU austreten möchte, darüber könnte man dann abstimmen. Wenn wir schon ständig abstimmen wollen, warum tun wir das nicht über die Senkung des Wahlalters oder die Verlängerung der Legislaturperiode? Auch das sind wichtige Fragen.

Warum fehlt Politikern der Mut, sich für die EU einzusetzen?Neisser: Das müssen Sie die Politiker fragen...

Auch Sie waren einst führend in der Politik tätig.Neisser: Vielleicht habe auch ich, obwohl ich es versucht habe, Europa zu wenig thematisiert. Natürlich wäre es begrüßenswert, wenn es die Möglichkeit einer EU-weiten Abstimmung gäbe, nur werden sich die 27 Staaten in absehbarer Zeit nicht einigen. Jetzt klagen wir stets, dass die EU ein elitäres Projekt sei. Aber wenn man sie wirklich zu den Bürgern hinaustragen will, kann man der Demokratie nicht ausweichen. Übrigens wäre ich auch für eine Volksabstimmung über die Verlängerung der Legislaturperiode gewesen, das ist eine essentielle Frage, die leider zwischen den Parteichefs abgesprochen wurde.

Auch den Reformvertrag kann man positiv bewerben: Er bringt einen Wertekatalog, der eine Visitenkarte für Europa ist und einen großem Schritt in Richtung Parlamentarisierung; und durch ihn wird die EU an Kontur nach außen gewinnen. All das sind Grundsatzfragen, die über die Verträge von Amsterdam und Nizza hinausgehen. Natürlich bedaure auch ich diese Kampagne, die in ihrer argumentativen Primitivität nicht mehr zu überbieten ist. Nur kann man nicht einfach kapitulieren! Wir sind heute völlig gelähmt von Meinungsfragen und Grundströmungen in gewissen Medien. Als Politiker muss man den Mut haben, dagegen anzukämpfen.

Swoboda: Ich sehe die Gefahr, dass unsere Abgeordneten glauben, dass die Sache mit der Abstimmung im Parlament erledigt ist. Sie ist nicht erledigt! Europäische Themen müssten tagtäglich gespielt werden. Das Problem ist nur, dass eine Parlamentarisierung in Österreich gar nicht so sehr befürwortet wird, weil man Machteinbußen für die nationale Ebene befürchtet. Dabei ist doch ganz klar, dass, wer in Energiefragen, beim Klima oder in Forschung und Entwicklung etwas bewegen will, an der EU nicht vorbei kommt. Der Fehler ist, dass wir die Dinge zu getrennt sehen. Sonntagsreden werden wir noch oft hören, nur wenn es konkret wird, ist die Politik auf nationaler und europäischer Ebene zu wenig verzahnt. Auch Nationalratsabgeordnete müssen verstehen, dass sie europäische Politik mitgestalten.

Irgendwann aber muss die EU mit den Bürgern rückgekoppelt werden. Wie soll das vor sich gehen?Swoboda: Das kann nur für jedes Thema einzeln geschehen. Wenn wir unter den Bedingungen der Globalisierung in der Welt eine Rolle spielen wollen, geht das nur gemeinsam. Das muss man den Bürgern sagen. Und wir müssen aufhören, eine Debatte pro/contra EU zu führen und statt dessen über konkrete Probleme und Lösungen reden.

Neisser: Trotzdem muss Europa mit den Bürgern versöhnt werden. Die Bilanz ist ja traurig: Bei nationalen Wahlen findet Europa faktisch nicht statt, und die Wahlen zum EU-Parlament zeichnet eine erschütternd geringe Wahlbeteiligung aus, die noch dazu ebenfalls von der Innenpolitik überlagert werden. Wann also gibt man den Bürgern endlich die Möglichkeit, Stellung zu nehmen? Risiko ist immer dabei, garantierte Mehrheiten gibt es in der Demokratie nicht. Aber die EU-Integration wird nicht fortgeführt werden können, wenn man dieses Risiko nicht eingeht. Ich weiß schon, dass man den EU-Vertrag in seiner Gänze den Bürgern nicht näher bringen kann, aber es gibt in Österreich seit 1988 die Möglichkeit einer Volksbefragung. Hier könnte man konkrete Vertragsaspekte herausgreifen und Fragen formulieren, über die abgestimmt werden kann. Das wäre zwar nicht verbindlich, aber sie würden eine gewisse Orientierung ermöglichen.

Swoboda: Ich finde die Gleichsetzung von Volksabstimmung und Demokratie problematisch. Die Bürger mit konkreten Fragen zu konfrontieren, würde ich natürlich begrüßen, allerdings braucht es zuvor umfassende Information. Aber seien wir ehrlich: Der Anteil der Menschen, die sich wirklich informieren wollen, ist sehr, sehr begrenzt. Es ist leicht zu sagen Ich bin nicht informiert und gleichzeitig die Fülle an Information nicht zu nutzen.

Überfordern Instrumente der direkten Demokratie die meisten Bürger?Swoboda: Ich befürchte schon, zumindest solange Politik nicht anders gemacht wird. Ich kann nicht - um es gelinde zu sagen - ein nicht gut funktionierendes politisches System mit einem Mangel an Streitkultur, wie wir es in Österreich haben, durchbrechen und sagen: Jetzt machen wir eine Volksabstimmung. Dazu müsste man das gesamte System reformieren und von diesem ständigen Hickhack wegkommen. Wenn das nicht gelingt, wird mehr direkte Demokratie auch nicht zu mehr Demokratie führen.

Neisser: Dem stimme ich voll zu. In Österreich ist die gesamte Diskussion vom Misstrauen gegenüber den demokratischen Institutionen geprägt. Das führt dazu, dass solche Debatten große demokratiepolitische Brisanz gewinnen. Nur wenn wir jetzt warten, bis sich das ändert, dann wird die Demokratie jegliche Dynamik verloren haben.

Also Abstimmen samt dem Risiko zu scheitern?Neisser: Die Einstellung zur EU ist nicht so negativ, wenn man sich Details der Umfragen näher anschaut. Vor allem die Jugend hat eine positive Meinung. Allein, um ihr die Chance auf ein positives EU-Erlebnis zu geben, würde ich eine Volksabstimmung eingehen. Aber natürlich ist das ein Risiko und Österreich hat sich verpflichtet, gegenüber den anderen 26 Staaten, einen möglichst risikoarmen Weg zu gehen.

Swoboda: Mir ist das Risiko des Scheiterns zu groß, denn was würde bei einem Nein geschehen? Dann wäre der Reformvertrag samt aller Verbesserungen gescheitert, die jetzige Politik aber würde weiterbestehen. Was notwendig wäre, ist eine emotionale, zugespitzte, durchaus auch provozierende Auseinandersetzung mit Europa, die die Menschen bewegt.

Neisser: Bei Emotionen weiß man nur nie, was am Ende herauskommt. Aber jeder Politiker muss sichtbar machen, was Europa bedeutet. Das haben große Europapolitiker stets getan, ob sie nun Helmut Kohl, Francois Mitterand oder Jean-Claude Juncker heißen. Hier könnten Österreichs Politiker viel lernen.

Swoboda: Das stimmt leider.

Die Volksabstimmung wird wohl nicht kommen - wie wird es mit Europa in Österreich weitergehen?Neisser: Die Enttäuschung derjenigen, die zwar EU-kritisch, aber grundsätzlich positiv eingestellt sind, wird weiter zunehmen, ihre Distanz zu Europa wachsen.

Swoboda: Die rechten Gegner der EU, also FPÖ und BZÖ, werden sich wieder der Ausländerfrage zuwenden, wo ihnen ebenfalls zu wenig offensiv geantwortet wird. Die anderen Parteien müssen sich klar sein, dass sie zwar mit der Ratifizierung einen Sieg errungen haben, aber dabei keineswegs die Bevölkerung hinter sich haben. Darüber bin auch ich tief betroffen - und daran müssen wir alle gemeinsam arbeiten.

Zur Person:Hannes Swoboda (61) ist Leiter der SPÖ-Delegation im EU-Parlament. Der frühere Wiener Planungsstadtrat wechselte 1996 vom Wiener Rathaus nach Brüssel und Strassburg. Seine berufliche Karriere startete der studierte Jurist und Volkswirtschaftler 1972 in der Arbeiterkammer.

Heinrich Neisser (72) emeritierte kürzlich als "Jean Monnet"-Professor für EU-Fragen an der Universität Innsbruck. Der Verfassungsexperte und langjährige ÖVP-Politiker startete seine Karriere 1969 als Staatssekretär im Bundeskanzleramt; 1987-89 war er Minister für Verwaltungsreform, von 1990-94 Klubobmann sowie anschließend bis 1999 Zweiter Nationalratspräsident.