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Europa, du alte Romantikerin

Von Solmaz Khorsand aus Brüssel

Politik

Europas Libyen-Politik fokussiert auf Migrantenabwehr. Einige Bürgermeister wollen den Staat wieder aufbauen.


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Brüssel. Der Tag gehört den Europäern. Die Nacht den Libyern. "Ab Mitternacht funktioniert ihr Netz besser. Dann klingelt es bei mir bis 4 Uhr morgens", erzählt Benedetta Oddo und schaut auf ihr Handy. Seit zwei Jahren hat sie es nicht mehr ausgeschaltet. Sie steht auf Abruf. Am Tag für Brüssel, Antwerpen und Triest. In der Nacht für Tripolis, Benghazi und Sirte.

Das verlangt der Job. Benedetta Oddo ist Kupplerin. Und das im großen Stil. Ihr Ziel: europäische Städte mit libyschen zusammenzubringen. Die mittelmeerübergreifende Kuppelei nennt sich Nicosia Initiative. Es ist Entwicklungshilfe auf lokaler Ebene. Von Kommune zu Kommune. In Expertenkreisen heißt das Bottom-up. Sieben libyschen Städten werden Partner aus der EU zur Seite gestellt. So gibt Antwerpen libyschen Beamten Workshops in korrekter Müllentsorgung, das spanische Murcia zeigt den innovativen Umgang mit der knappen Ressource Wasser und Lissabon will libysche Krankenschwestern ausbilden.

Nicht ohne Eigennutz. Es gilt, Europas Türsteher zu stabilisieren. Nach dem Sturz des Regimes von Muammar al-Gaddafi 2011 versinkt das Land in Chaos. Rivalisierende Regierungen, Milizen, Menschenschmuggler und hie und da eine IS-Sprengel. Von einem zweiten Somalia ist die Rede. Ein "failed state".

Die EU steht unter Zugzwang. Schließlich ist Libyen nicht irgendein afrikanisches Land. Es ist Europas Hinterhof, gerade einmal 300 Kilometer von Malta entfernt. Bis 2015 war Brüssels Interesse gering am strauchelnden Nachbarn. Doch dann kamen die Migranten. Und mit ihnen die Schlagzeilen. Allein dieses Jahr wagten 103.175 Männer, Frauen und Kinder die Überfahrt über das Mittelmeer. 90 Prozent von ihnen nahmen ihren Weg über Libyen. Gestoppt sollen sie werden, fordern Politiker auf dem ganzen Kontinent. Bei einem Gipfeltreffen in Malta im Februar 2017 einigte man sich auf eine "Migrationsstrategie": Die libysche Küstenwache soll mit EU-Hilfe das Mittelmeer abriegeln, Flüchtende abfangen und sie in Aufnahmelager vor Ort bringen. "Vor Ort", das ist die wichtigste Prämisse. Vor Ort will man Hilfe leisten. Vor Ort will man präventiv vorgehen.

Bisher konzentrierte sich Europas Vor-Ort-Hilfe vor allem auf die Abwehr von Migranten. Dort fließt das Geld hin, dort die Expertise. Der Aufbau des Landes ist zweitrangig. Benedetta Oddo schüttelt den Kopf. "Wir beginnen das Dach zu bauen, bevor noch das Fundament des Hauses steht", sagt die Politikwissenschafterin. Sie will das ändern.

Franco Iacop lädt seine libyschen Kollegen nach Triest, um ihnen die europäischen Standards beim Fischfang näherzubringen.
© C. Sponza

Keine Warlords aus dem Reich der Finsternis

Es ist zehn Uhr morgens im Café Bon am Schuman-Platz im Brüsseler EU-Viertel. Koffeinisiert tummelt sich das EU-Volk auf der Straße. Auch Oddo hetzt von einem Termin zum nächsten. Noch am Vortag hat sie eine Delegation aus zehn libyschen Kommunalpolitikern durch die Institutionen getrieben, sie Leuten vorgestellt, sie netzwerken lassen und sie den Europäern gezeigt. Sie sollten sehen, wer diese Libyer sind. Dass es sich um keine Warlords aus dem Reich der Finsternis handelt, sondern um langweilige Kommunalbeamte, die wissen wollen, wie sie das Abwassersystem in ihrer Stadt zum Laufen bringen, wie sie die Müllberge bewältigen und wie sie ihr Personal schulen.

Für Oddo sind diese Männer der Schlüssel für die Zukunft Libyens. Seit 25 Jahren beschäftigt sich die Mittvierzigerin mit der Region, hat viele Jahre als UN-Koordinatorin für lokale Entwicklungsprojekte in Ägypten, Libanon, den Palästinensergebieten, Syrien, Irak und zuletzt Libyen gearbeitet. Sie hat Gaddafis Sturz hautnah miterlebt, die Euphorie der Libyer gespürt und ebenso die Enttäuschung über ihre gekaperte Revolution. Versagt habe die internationale Gemeinschaft im Jahr 2011. Man hätte die Kämpfer gleich nach Gaddafis Sturz entwaffnen müssen, meint Oddo. Etwas, wozu die Gemeinschaft in der Lage gewesen wäre, hatte man darin doch schon jahrelange Erfahrung. Stattdessen hat der Westen die Libyer ihrem Schicksal überlassen und ein Vakuum riskiert, in dem das Recht des Stärkeren gilt. Nun ist jede Entwicklung dem Sicherheitsaspekt unterworfen. Die Folge: Keiner traut sich ins Land. "Dieser Sicherheit-zuerst-Ansatz hat das Land vollkommen isoliert. Es gibt überhaupt keine Projekte", kritisiert Oddo.

Die neuen Powerbroker

Und genau hier will die Nicosia Initiative ansetzen. Gemeinsam mit Farida El Allagi, Libyens EU-Botschafterin, hat sich Oddo vor zwei Jahren überlegt, wie sie das Land aus der Isolation führen können. Ihre Lösung: über die Bürgermeister. Sie sind Libyens neue Powerbroker.
Unter Gaddafi war die Macht ausschließlich in der Hauptstadt Tripolis konzentriert. Seit der Revolution hat sich das geändert. Dezentralisierung ist angesagt. Die Bürgermeister sind nicht länger Marionetten, die auf die Befehle des Colonels warten, sondern eigenmächtige Akteure. Als Dienstleister sollen sie sich um die Anliegen der Bürger kümmern. 2012 wurde das entsprechende Gesetz dafür verabschiedet. Im selben Jahr fanden die Kommunalwahlen statt. "Die Bürgermeister sind für die Leute die ersten Ansprechpartner", erklärt Oddo. Im Gegensatz zu den nationalen Regierungsvertretern, genießen die Bürgermeister politische Legitimität in der Bevölkerung. Man kennt sie. Und sie haben Einfluss. Daher könnten sie auch international als verlässliche Partner herhalten, so der Pitch der Initiatoren.

In Europa fand der Vorschlag Gehör. Im Jänner 2016 wurde die Initiative in der zypriotischen Hauptstadt lanciert. Unter der Schirmherrschaft des EU-Ausschusses der Regionen wurden europäische Partnerstädte gefunden, die sich der sieben libyschen Städte Tripolis, Zintan, Ghariyan, Sebha, Sirte, Benghazi und Tobruk annehmen sollten.

Mustafa Al-Baroni putzt viele Klinken für die Nicosia Initiative. Hier mit Johannes Hahn, EU-Kommissar für Nachbarschaftspolitik.
© privat

Wir wollen das erste Stück vom Kuchen

"Wir haben die Initiative interessant gefunden, auch als Antwort auf das Migrationsphänomen. Hier können wir außerhalb der EU agieren, nämlich dort, wo die Migration stattfindet und ihren Ursprung hat", erklärt Franco Iacop. Der Italiener ist Präsident des Regionalrats von Friaul-Julisch Venetien. Im Juni hat er eine libysche Delegation nach Triest eingeladen, um den Kollegen das Einmaleins der Fischerei näherzubringen. Von der Fischzucht über den Fang bis hin zur Zertifizierung für den europäischen Markt sollen die Libyer das nötige Know-how bekommen. Derzeit ist man noch in der Evaluierungsphase. Sobald die Gelder aufgestellt sind, will man mit der Schulung und Implementierung in Libyen beginnen. Man ist optimistisch. Auch wenn die Lage vor Ort nicht unbedingt stabil ist – selbst was die Sicherheit der Partner betrifft. Der Bürgermeister von Ghariyan wurde unmittelbar vor dem Launch der Initiative von einem Scharfschützen in seinem Büro angeschossen, sein Kollege von der Stadt Sirte entführt (und nach zwei Monaten wieder freigelassen).

Wie sehr lässt es sich in einem derartigen Klima kooperieren? Franco Iacop winkt ab. Man habe Vertrauen in die libysche Seite. "Das Wichtigste ist, dass die libysche Bevölkerung vor Ort die Fischerei legal organisieren kann und so autonom wird, um wirtschaftliche Entscheidungen zu treffen", sagt Iacop.

Ist das gewährleistet, können die Unternehmer aus seiner Region von dem neuen Markt profitieren. Frei nach dem Motto: Wir helfen euch beim Kuchenbacken, dafür kriegen wir auch das erste Stück.

Und was für ein Stück. Der Wüstenstaat ist reich an Bodenschätzen, unter anderem Erdgas und Erdöl. Außerdem ist Libyen kaum erschlossen. Gaddafi hat das Land 32 Jahre lang isoliert und dabei insbesondere die Infrastruktur vernachlässigt. Es fehlt an allen Ecken und Enden, vom Verkehrsnetz über die Energieversorgung bis hin zur Kanalisation. Eine Goldgrube für jeden Investor.

"Wir müssen geben, um zu nehmen"

Das weiß auch Mustafa Al-Baroni. Darauf baut er. Er ist Bürgermeister der Stadt Zintan, einer 50.000-Seelen-Gemeinde im Nordwesten des Landes, knapp zwei Autostunden von der Hauptstadt Tripolis entfernt. Es ist Mittwochabend. Gemeinsam mit neun libyschen Kollegen sitzt der bullige Mittfünfziger um sechs Uhr abends noch in einem Meeting mit europäischen Kollegen in einem Konferenzraum des Ausschusses der Regionen an der Rue Belliard in Brüssel. Eine Referentin aus Brandenburg stellt ihnen potenzielle Kooperationsmöglichkeiten vor. Von Jugendbeschäftigungsprogrammen bis hin zu Projekten politischer Bürgerpartizipation. "Wir brauchen das alles", brummt Al-Baroni in die Runde. Die Anwesenden nicken.

Al-Baroni gehört zu den treibenden Kräften der Nicosia Initiative. Seit 2012 ist der einstige Mathematiklehrer Bürgermeister von Zintan. Mindestens zehn Mal wollte er in diesen fünf Jahren das Handtuch werfen. Bekniet hat er seine Kollegen im Stadtrat ihn doch auszuwechseln. "Keiner will den Job machen. Er ist hart. Uns sind die Hände gebunden, weil es kein Geld gibt", sagt er. Das frustriert.

Aus diesem Grund tingelt er auch durch Europa. Bis jetzt gab es lediglich Besuche und vereinzelt Workshops. Für die konkrete Umsetzung fehlen noch die Investoren. Die gilt es aufstellen. Die kleinste Zusage ist ein Gewinn. Al-Baroni ist dankbar. Aber er kennt Europas Motivation. Dass die EU in Libyen lediglich einen stabilen Türsteher sucht, der ihnen die Front gegen die Migranten macht. Und dass die Europäer das Geld riechen, das in dem rohstoffreichen Land zu holen ist. Gaddafi ist seit sechs Jahren tot. Der Weg ist frei, sich im nordafrikanischen Küstenstaat auszutoben. Und jeder will der Erste sein. "Das ist normal. Wir müssen geben, um zu nehmen", sagt er. Er ist pragmatisch. Von ideologischem Pathos werden seine Wähler nicht satt. Solange ihm die Europäer beim Aufbau seiner Stadt helfen, können sie so viele Hintergedanken haben, wie sie wollen. Das ist Mustafa Al-Baroni egal. Er ist Dienstleister. Und als solcher ist er nicht pingelig. Die Kuppelei soll ja fruchten. Libyen braucht keine europäische Geliebte. Sondern eine Partnerin. Alles andere ist vergebene Liebesmüh.