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Die romantische Version einer immer besser werdenden EU muss korrigiert werden.
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Es war einmal ein Kontinent. Warum er nach einer Königstochter benannt wurde, die von einem Gott in Stiergestalt entführt worden war, war nicht jedem klar. Es kümmerte auch kaum jemanden. Die Bewohner dieses Erdteils bezeichneten sich auch nicht in erster Linie als Europäer, sondern als Bauern, Handwerker, Händler, Maler, Philosophen. Manche gingen am Sonntag in die Kirche, andere am Samstag in die Synagoge, noch andere am Freitag in die Moschee. Sie waren Untertanen von Königen, deren Reiche sich ausdehnten und später wieder schrumpften.
Auch deswegen war an ein ausschließlich friedliches Mit- oder Nebeneinander nicht zu denken: Soldaten wurden von ihren Anführern in Kriege geschickt, und von diesen blieb die Zivilbevölkerung ebenso wenig verschont. Hinzu kamen Kämpfe, die die Menschen in ihrem eigenen Namen auszufechten hatten: für Selbstbestimmung, Gleichberechtigung, politische Teilhabe, das Recht auf Bildung und Bezahlung, die Freiheit der Meinung. Herrscher wurden gestürzt, Königreiche zerfielen, und manche Menschen wollten dann weiterhin nicht in erster Linie Europäer sein, sondern Ungarn, Polen, Deutsche oder Serben - mit einem eigenen Staat und eigenen Grenzen.
Doch auch die wurden wieder verschoben, und nach zwei Kriegen, die den Kontinent in Flammen aufgehen ließen, war Europa lange Zeit zerrissen. Ein eiserner Vorhang schob sich vor weite Teile des Ostens, wo jene ihren Einfluss gelten ließen, die noch weiter östlich Macht ausübten.
Im Westen aber entstand eine Idee: auf den Trümmern des Krieges alte Feindschaften in eine neue Gemeinschaft zu verwandeln. Es ging um Wirtschaft und Geld - jedoch auch um den Versuch, durch das Bündnis den eingekehrten Frieden für längere Zeit zu sichern.
Das Projekt zog immer mehr Menschen und Länder an - aus dem Norden, aus dem Süden und aus dem Osten, nachdem dort der eiserne Vorhang zertrümmert worden war. Die Union, die europäische, wuchs und gedieh, ihre Bürger konnten sich ohne Kontrollen auf dem gesamten Kontinent bewegen, armen Regionen ging es immer besser, und die Menschen sangen in trauter Vielsamkeit - da in unterschiedlichen Sprachen - die "Ode an die Freude". Und wenn sie nicht gestorben sind, dann singen sie noch heute.
So viel zum Märchen. Und zum Narrativ, das EU-Enthusiasten gerne transportieren würden. Doch die romantische Vorstellung von der Union kann die Gräben, die sich noch immer quer durch den Kontinent ziehen, nicht zudecken. Die Menschen und die Länder streiten weiterhin miteinander, ein Staat will die Gemeinschaft überhaupt verlassen. Im Osten gibt es andere Vorstellungen von der Entwicklung der Europäischen Union denn im Süden oder im Norden. Die einen haben Angst davor, wirtschaftlich und politisch abgehängt zu werden, die anderen davor, ihren Wohlstand teilen zu müssen. Nationalisten und Populisten scharen ihre Anhänger um sich.
Die märchenhafte Version von Europa muss daher korrigiert werden. Völlig vergessen muss sie deswegen aber auch nicht werden.