Bedarf es heute in der EU schon besonderer Energie, die selbstverständlichsten Konsequenzen der allgemeinen Menschenrechte einzufordern?
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 13 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Berlusconi behauptet, Italien sei mit den Bootsflüchtlingen aus Tunesien völlig überfordert, und stellt ihnen sechs Monate gültige Schengen-Visa aus. Sarkozy behauptet, Frankreich werde von dieser Entwicklung überfordert, und führt Grenzkontrollen zu Italien ein. Die Kommission zeigt mildes Verständnis für Frankreich und möchte über die temporäre Aussetzung der Bewegungsfreiheit im Schengen-Raum reden, allerdings auf europäischer und nicht bilateraler Ebene.
Ja drehen denn jetzt alle durch? Halten wir uns ein paar Fakten vor Augen. Auf der italienischen Insel Lampedusa sind im Gefolge der libyschen Krise bis Ende April rund 25.000 Personen gelandet. Italien hat 60 Millionen Einwohner. Auf die 8 Millionen Österreicher umgelegt, hieße das hierzulande, wegen 3300 Flüchtlingen in Hysterie zu geraten; während der Bosnienkrise hat Österreich mindestens 60.000 Personen aufgenommen, das entspräche 450.000 bei der Bevölkerung Italiens. Und Frankreich ist mit 62 Millionen Einwohnern noch größer als Italien. Tunesien hat übrigens in den letzten Wochen fast 250.000 Flüchtlinge aus Libyen aufgenommen, das Zehnfache von Italien. Und Tunesien ist, verglichen mit Italien oder Frankreich, ein winziges Land mit einem Bruchteil des Prokopfeinkommens der EU-Staaten.
Aber man sollte sich nicht nur über Berlusconi und Sarkozy erregen. Der Rest der EU, 25 Staaten mit zusammen 370 Millionen Einwohnern, putzt sich bisher ab. So ein Pech für Berlusconi, dass Lampedusa zu Italien gehört. Und so ein Pech, dass das Dublin-Abkommen nun einmal vorsieht, dass Flüchtlinge im Erstankunftsland zu beherbergen und auf ihren Status (Asyl, Abschiebung, Einwanderung, beziehungsweise die Zwischenstufen) zu überprüfen sind. Armer Silvio, sieh zu, wie du zurechtkommst, uns geht das nichts an. Ich habe sonst keinerlei Sympathie für Berlusconi, aber dass ihm da der Kragen platzt, verstehe ich. Die Schengen-Visa sind die Quittung für das beschämende Verhalten der EU-Bruderstaaten.
Man kann vermuten, dass viele der Bootsflüchtlinge keinen Anspruch auf Asylstatus werden nachweisen können. Aber Hunderte sind im Lauf der letzten Jahre beim Versuch, Malta oder Lampedusa zu erreichen, ertrunken. Das mindeste, worauf die Überlebenden Anspruch haben, ist eine faire Überprüfung jedes Einzelfalls. In Malta und Lampedusa sind jeweils rund 1000 Personen aus Äthiopien, Eritrea und Somalia eingelangt, die zuvor in Libyen gearbeitet haben. Die Somalis jedenfalls sind nicht abschiebbar, da in ihrem Land seit Jahren Anarchie und Bürgerkrieg herrschen. Bedarf es heute in der EU schon besonderer Energie, die selbstverständlichsten Konsequenzen der allgemeinen Menschenrechte einzufordern? Und wenn der Flüchtlingsstrom tatsächlich Tsunami-Ausmaße erreicht, wovon er gegenwärtig meilenweit entfernt ist, was ist dann?
Alexander Van der Bellen ist Nationalratsabgeordneter der Grünen. Jeden Dienstag lesen Sie an dieser Stelle den Kommentar eines Vertreters einer Parlamentspartei.