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Europa freut sich - fast ironiefrei

Von Hermann Sileitsch

Politik

Eine Spur Pathos, ein bisschen Rührung und ein klein wenig Beschämung


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Oslo. Europa ist ganz eng zusammengerückt. Auf zwei Sitzreihen, dicht an dicht, saßen die Staats- und Regierungschefs aus den 27 EU-Ländern, die (fast) geschlossen zum Zeremoniell nach Oslo angereist waren. Ein rares Bild der Einigkeit in der streitbaren europäischen Familie. Ob Finanzrahmen, Bankenaufsicht oder Eigenkapitalregeln - sonst bestimmen Zank und Hader den politischen Alltag.

Da brauchte es schon das norwegische Nobelpreis-Komitee, um die Europäer zur Besinnung zu bringen - darauf, was wirklich zählt; gerade in Zeiten der Wirtschafts- und Eurokrise. Es sind 60 Jahre des Friedens, der Freiheit und der Versöhnung. Dafür nahm die Europäische Union am Montag in Oslo den Friedensnobelpreis entgegen.

Ganz vorne saßen Angela Merkel und François Hollande. Die deutsche Kanzlerin und der französische Präsident, die sich als Zeichen der Aussöhnung die Hände reichen: Das wird zwar nicht in das kollektive Gedächtnis der großen Gesten eingehen wie die Umarmung von Adenauer und de Gaulle 1963 bei der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages, Willy Brandts Kniefall in Warschau 1970 oder das stille Händehalten von Kohl und Mitterrand 1984 in Verdun. Aber es erinnerte daran, dass Versöhnung und Friede in Europa nicht möglich gewesen wären, hätten nicht - wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs - die Rivalen Frankreich und Deutschland den ersten Schritt getan. "Der entscheidende Moment", wie EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy erinnerte.

Europas Problem mit Pathos

Die peinlichen Hahnenkämpfe im Vorfeld der Zeremonie waren da vergessen: Wer den Preis entgegennimmt. Welcher Vertreter welcher Institution wie lange reden darf. Die äußerst europäische Lösung: Am Ende durften alle. Parlamentspräsident Martin Schulz nahm den Preis entgegen, die Festansprache teilten sich Van Rompuy und Kommissionschef Jose Manuel Barroso. In den stärkeren Passagen der Rede schaffte es Van Rompuy, nachdenklich zu stimmen - darüber, wie zerbrechlich der "nunmehr selbstverständliche" Friede noch sein könnte: "Krieg ist undenkbar. Aber undenkbar bedeutet nicht unmöglich."

Vor allem die von der Krise hart getroffenen Menschen hätten nicht in erster Linie Frieden im Sinn, wenn sie an Europa denken. Mit dem Wohlstand und der Beschäftigung seien die Fundamente der Gesellschaft bedroht - was längst vergessene Bruchlinien und Vorurteile zutage fördere. Einige hundert Demonstranten protestierten in Oslo: Angesichts der Heere von Arbeitslosen und von EU-Waffenexporten in alle Welt sei die Preisverleihung ein "Schlag ins Gesicht", sagte eine junge Demonstrantin. Europa, das sich als Friedensprojekt feiert - mit Pathos haben viele auf dem jung geeinten, alten Kontinent noch ihre liebe Not. Das zeigen viele Kommentare auf Twitter & Co., deren Tenor von sanftem Spott bis zu bitterer Häme reicht. Das beweist der Ironie-Schlenker von Van Rompuy, wenn er die europäische "Kunst des Kompromisses" rühmt, bei der Binnenstaaten leidenschaftlich über Fischfangquoten streiten - und jeder am Ende als Sieger heimfahren darf.

Die Union tut sich schwer damit, ihre Errungenschaften ironiefrei zu feiern. Vor allem die ältere Generation. Ein Jugendlicher aus Malta resümierte nüchtern: "Europa ist ein Traum, hätten meine Großeltern gesagt. Es ist eine Entwicklung, sagen meine Eltern. Für mich ist Europa die tagtägliche Realität."