Istanbul · Als Abdullah Öcalan am Morgen des 16. Februar von türkischen Sicherheitskräften in aller Stille auf die Gefängnisinsel Imrali im Marmara-Meer gebracht wurde, explodierte in den | Städten Europas die Wut der PKK-Anhänger. Sie besetzten Botschaften und Konsulate, errichteten Straßenbarrikaden und forderten lautstark die Freilassung ihres Idols. In Berlin starben vier Menschen | beim Sturm kurdischer Demonstranten auf das israelische Konsulat. Die Proteste zogen sich über Tage hin und führten den Europäern plastisch vor Augen, wie unangenehm nahe ihnen der Konflikt zwischen | der Türkei und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ist.
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Dennoch hat Europa kaum Einfluß auf den Prozeß gegen Öcalan, der am 31. Mai auf Imrali erstmals vor dem Richter stehen wird.
Dies liegt vor allem am Ärger der Türken über das Verhalten der EU-Länder während der halbjährigen Flucht Öcalans vor den Agenten Ankaras. Nicht ohne Grund versuchte der PKK-Chef, nach seiner
Vertreibung aus Syrien im Herbst vergangenen Jahres, in Europa eine neue Bleibe zu finden: Zum einen hat die PKK unter den dort lebenden Türken viele Anhänger, zum anderen gibt es zumindest in
einigen Ländern auch bei Behörden und Regierungen Sympathien für die Kurden-Rebellen. Als Öcalan im November in Italien ankam und trotz türkischer Forderungen nicht an Ankara ausgeliefert wurde,
entlud sich die Verärgerung vieler Türken in einem Boykott italienischer Güter und Demonstrationen vor italienischen Einrichtungen.
Auch Deutschland entpuppte sich aus türkischer Sicht als unzuverlässiger Partner, als es trotz bestehenden Haftbefehls auf einen Auslieferungsantrag für Öcalan verzichtete. Als sich dann auch noch
herausstellte, daß Regierungsmitglieder aus den Reihen des türkischen Erzfeind und EU-Mitglieds Griechenland bei der Flucht Öcalans halfen, war für Ankara das Maß voll. Als "schwachsinnig" tat der
heutige Ministerpräsident Bülent Ecevit im Herbst auch den Vorschlag Deutschlands und Italiens für einen internationalen Sondergerichtshof für den PKK-Chef ab.
Entsprechend gereizt reagierten die Türken, als nach der Festnahme Öcalans in Europa Ermahnungen laut wurden, dem Rebellenchef ein rechtsstaatliches Verfahren zu garantieren. Regierungen, die selbst
auf eine Strafverfolgung Öcalans verzichtet hätten, seien jetzt nicht berechtigt, der Türkei Vorschriften zu machen, ließ Ecevit die Europäer wissen. Die Türkei werde mit Öcalan nach ihren eigenen
Gesetzen abrechnen und sich dabei von niemandem hereinreden lassen. Auch internationale Beobachter würden nicht zugelassen.
Die Tatsache, daß Ankara den Vertretern des Anti-Folter-Komitees des Europarats freien Zugang zu Öcalan gewährte und auch der Veröffentlichung der Untersuchungsergebnisse zustimmte, änderte an dem
Mißtrauen der Türken nichts: Als Europarats-Mitglied ist die Türkei bemüht, alle internationalen Verpflichtungen im Fall Öcalan zu erfüllen · nicht weniger, aber auf keinen Fall mehr.
Die Verstimmungen wegen des PKK-Chefs hatten auch Auswirkungen auf den Allgemeinzustand der Beziehungen zwischen Ankara und EU-Europa. Ecevit fühlte sich durch das Verhalten Europas in der Affäre in
seiner euroskeptischen Haltung bestärkt. Schon seit der Ablehnung des türkischen Beitrittswunsches beim EU-Gipfel von Luxemburg im Dezember 1997 liegt der politische Dialog zwischen Ankara und
Brüssel auf Eis. Das von Ecevits sozialdemokratischer Partei geführte Außenministerium sieht die Aufnahme in die EU nicht mehr als Hauptziel türkischer Außenpolitik an.
Der Ausgang der Parlamentswahlen am 18. April tat ein übriges, um die Europa-Skepsis in Ankaras Politszene zu verankern. Die rechtsextreme MHP fordert als zweitstärkste Kraft im Parlament eine
Generalrevision der Europapolitik · bei Ecevit rennt sie damit offene Türen ein. Vom bevorstehenden EU-Gipfel in Köln Ende Juni erwarten die Türken deshalb die Anerkennung als EU-Beitrittskandidat,
die ihnen aus ihrer eigenen Sicht seit Luxemburg verwehrt wird. Doch ob mit dem offiziellen Titel eines EU-Kandidaten oder ohne: Beim Öcalan-Prozeß werden die Europäer kaum eine Rolle spielen können.