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Europa hat noch einmal die Chance, Europa zu sein

Von Erhard Busek

Politik

Wir haben jetzt die Chance, Europa wieder als einen kulturellen Kontinent zu begreifen und seine Vielfalt zu nutzen. Damit verändert sich die Qualität der europäischen Einigung. War es mit | Montanunion und Europäischer Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zunächst die Aufhebung des seit dem 17. Jahrhundert währenden deutsch-französischen Konflikts, dann die Vorstellung der Einheit eines freien | Europa als Bollwerk gegen den Kommunismus, so ist es seit Maastricht die Chance eines freiwilligen Zusammenschlusses zu einer neuen politischen Realität. Europa hat noch einmal die Chance, Europa zu | sein.


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Das verschiebt allerdings den Akzent von der Ökonomie zur Kultur, zur eigentlichen Besinnlichkeit des alten Kontinents. Der "Euro" kann nicht das einzige Entscheidende sein, Kultur ist mindestens

ebenso konstitutiv. Es mag vor 1989 berechtigt gewesen sein, Kultur aus den europäischen Vertragswerken auszuschließen; doch der so kritisierte Maastricht-Vertrag hat in den Artikeln 125, 126 und 127

eine Bresche für Bildung, Wissenschaft und Kultur geschlagen. Damit wird die notwendige Subsidiarität nicht gefährdet, sondern durch die Gewinnung der gemeinsamen kulturellen Substanz unterstützt.

Was läßt uns die Frage nach der "Vielfalt", nach der "kulturellen Zusammenkunft" Europas stellen? Die Beantwortung dieser Frage zu verweigern ist "Einfalt" · Dummheit -, genauso wie zu meinen, daß

nicht die Vielfalt das konstituierende Element Europas sei, daß nicht die Frage "kulturelle Zukunft" die Existenz Europas entscheide.

Schizophrenie des Denkens

Es gibt eine Dichtotomie, ja sogar Schizophrenie des Denkens. Wir sind stolz auf die Vielfalt der Kultur, und gleichzeitig müssen wir erleben, daß eine Verweigerung der Akzeptanz des "Anderen",

des Fremden, stattfindet. Dabei ist die kulturelle Landschaft so reich! Horizontal, also gleichzeitig, erleben wir eine Vielfalt von Völkern, Sprachen und Ausdrucksformen. Wir kennen die Unterschiede

in unseren Tälern genauso wie die der Mode, der Literatur und der Musik. Der Reichtum umfaßt aber auch das Vertikale, nämlich die Abläufe der Epochen. Was ist doch nicht alles in diesem Europa seit

der Antike, der jüdisch-christlichen Welt, dem Mittelalter, der Renaissance und der Aufklärung geschehen, bis wir bei der "Postmoderne" gelandet sind!

Rund um die europäische Einigung führen wir eine Identitätsdiskussion, wobei ich das Wort "Identität" gar nicht glücklich finde, denn viele Redner verwechseln dabei schon die Konsonanten. Um die

Identität der Schweizer oder der Österreicher mache ich mir überhaupt keine Sorgen, sie sind jederzeit erkennbar und unterscheidbar · meine Landsleute sind im Ausland aufgrund ihres Verhaltens oft

wohl allzu rasch zu identifizieren. Dann gibt es jenen Regionalismus, der, gut verstanden, grenzüberschreitend sein kann, wie das etwa rund um den Bodensee, am Rhein oder im Verhältnis der Suisse

Romande zum Nachbarn, in Belgien oder ebenso im Ticino der Fall ist: ein gemeinsames Gefühl, das grenzüberschreitend ist.

Wachsende Desintegration

Dann aber sprechen die Kritiker wieder von der wachsenden Desintegration, wobei sich das Auseinanderfallen künstlicher Nationalstaaten als Rache falscher Lösungen erweist. Man denke nur an die

Trennung der Tschechen von den Slowaken, an die Tragik Jugoslawiens oder an den Zerfall der Sowjetunion. Aber auch westliche Nationalstaaten sind davor nicht gefeit. Inzwischen ist die italienische

Landschaft reich an Unterschieden und differenzierten Gefühlen; Spanien kämpft mit den besonderen Wünschen der Basken und Katalanen; ja selbst Frankreich zeigt da und dort Ortsschilder, die in der

"langue d'oc" geschrieben sind. Der, die, das "Andere" wird als Bedrohung empfunden, dabei ist es ein Reichtum. Denken wir an alltägliche Dinge des Lebens wie die unterschiedliche Küche in Europa und

die Faszination der Kultur oder auch an die Ausformung des Glaubens. Wir tun uns mit dem Fremden schwer, dabei war das Wort für den Fremden in der Antike gleich mit dem des Gastfreundes · jemand, der

den Schutz genießt und gleichzeitig ein Objekt der Neugierde war.

Diese Unsicherheit ist durch ein Ereignis entstanden, mit dem wir bis heute nicht fertig geworden sind. Die Veränderungen in Europa seit 1989/90 haben uns in Verlegenheit gebracht. Der kommunistische

Internationalismus ist zerfallen; der Traum, durch die Gleichheit der Menschen ein Paradies auf Erden etablieren zu können, hat sich als fataler Irrtum erweisen. Wie in einem Film zieht die neue/alte

Vielfalt vorüber. Wir entdecken die slawische Welt wieder, eine geistige Landschaft, die geprägt ist durch die Orthodoxie, mit dem alten Byzanz und dem neuen Moskau als Zentrum. Schmerzlich werden ·

durch politische Konflikte und Kriege · die Probleme von Nation und Staat deutlich, wie sei bereits das ausgehende 19. und das 20. Jahrhundert beherrscht und schließlich zu Weltkriegen geführt haben.

Wir stehen auch vor der Verlegenheit, daß wir nach langer Zeit in der Lage sind, ein Kontinent zu sein.

Uns alle beherrscht die Diskussion um die Zukunft der Europäischen Union. Sie ist in einer großen Veränderung begriffen, denn eigentlich ist sie ein Produkt des West-Ost-Konflikts, war der Versuch,

die Kräfte der freien Demokratien zu konzentrieren, wurde dann aber zu einer Reaktion auf die amerikanische und japanische Herausforderung, in Wissenschaft und Forschung nicht der Eurosklerose zu

verfallen und wirtschaftlich konkurrenzfähig zu bleiben. Heute ist die Frage gestellt, ob Europa eine eigene Kraft sein kann · wohl nur durch das Spiel zwischen Vielfalt und Einheit. Die

Vielgestaltigkeit der Region ist der Ausdruck der gestalterischen Kraft Europas, geographisch wie kulturell. Ansonsten wären wir wieder ein Appendix, wie vor 1989: der eine Teil Europas nach Osten

und der andere über den Atlantik hinweg nach Westen orientiert.

Kenntnisse notwendig

Die Nutzung der Vielfalt verlangt aber Kenntnisse über Europa. Noch immer werden Slowenien, Slowakei und Slawonien verwechselt. So meinen die Wiener, daß Prag im Osten von Wien liege, weil es eben

politisch so war, während es geographisch nie gestimmt hat. Ohne Wissen um Europa können wir die Zukunft Europas nicht sicherstellen.

Carlo Mongardini, Professor an der La-Sapienza-Universität in Rom, hat vom Bild des Marktplatzes und des Tempels gesprochen. Der Marktplatz bedeutet Leben, Gemeinschaft und Geschichte, Leistung und

Wettbewerb, farbigen Wechsel, aber auch Egoismus bis hin zum Populismus. Marktschreierisch kann die Politik des Tages sein, das Hosianna und Crucifige wohnen nahe nebeneinander. Der Markt ist aber

auch der Ort der Demokratie, denn schließlich ist er auf der Agora des alten Athen entstanden. Der Tempel wieder ist der heilige Ort der Werte und Ideale, der Ort des Besten. Die Hüter des Tempels

sind eine Elite. Was muß es heute im Tempel geben? Wirtschaft allein wird nicht genügen, denn auch die EU weiß inzwischen, daß Integration ohne ein gemeinsames Programm für Bildung nicht möglich ist.

Religion ist heute der Säkularisierung unterworfen, was aber von ihr bleibt, ist eine Kultur des Zusammenlebens, etwa in Form von Menschenrechten und Demokratie. Der Theologe und Naturwissenschaftler

Theilhard de Chardin hat davon gesprochen, daß die menschliche Geschichte nichts anderes ist als die "Hominisation", die Menschwerdung.

Differenzierung tut Not

Im Gegensatz dazu steht die Politik für die Massen, wie sie in der ersten Hälfte des Jahrhunderts betrieben worden ist, die uns Diktaturen aller Art beschert hat und dann zur Politik der Massen

geworden ist. Die wiederum fördert die Emotion und provoziert einen Fundamentalismus, denn die Masse verlangt nach Orientierung und will als Einheit geführt werden. Differenzierung ist aber

notwendig, wir brauchen Eliten, Qualität. Die bedauernswerte Tatsache, daß es heute eine strukturelle und keine qualitative Oligarchie gibt, hat zur großen Entfremdung in der Demokratie geführt. Es

muß auch wieder Politik als heiligen Moment geben. Die Frage nach der politischen Kultur ist die Frage nach der Politik für die Zukunft. Nicht so sehr Technologie und Informationsgesellschaft werden

es sein, die unsere Zukunft bestimmen, sondern Erziehung und Bildung, die schöpferische Kraft des Menschen.