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Bade im Gespräch über Flüchtlinge, Menschenhandel und Silvio Berlusconi.
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"Wiener Zeitung":
Jährlich sterben Tausende auf der Flucht nach Europa. Scheitert hier die EU?Klaus J. Bade: Bei der Flüchtlingsproblematik versagt die EU seit langem. Erstens führen ihre ausgeweiteten Kontrollen zu immer riskanteren irregulären Routen nach Europa. Zweitens wird die Verantwortung für die Flüchtlingsabwehr zunehmend auf Drittstaaten verlagert. Das steht in Spannung zu humanitären Prinzipien, denn es gibt fragwürdige binationale Kooperationen mit Regimen, die selber menschenrechtliche Standards missachten. Die Flüchtlingsabwehr wurde nicht nur in internationale Gewässer vorverlagert, sondern sogar in die Küstengewässer von Drittstaaten. Die EU beklagt, dass bei binationalen Verträgen die Rechte der Flüchtlinge oft missachtet werden, erklärt sich aber dafür nicht zuständig und nimmt billigend das Ergebnis in Kauf: die Abwehr von irregulären Flüchtlingen. Es gibt ein Versteckspiel mit ethischen Normen.
Liegt das Problem auch daran, dass Staaten an Schengen-Außengrenzen allein gelassen werden?
Teilweise. Zuständig für asylsuchende Flüchtlinge ist grundsätzlich das Land, in dem diese zuerst europäischen Boden betreten haben. Griechenland ist damit komplett überfordert. Italien hat in Wahrheit deutlich weniger Probleme, täuscht sie aber vor. Als dort nach den Revolutionen in Nordafrika tausende von Flüchtlingen eintrafen, hat Italien ein falsches Szenario vorgespielt: Es hat die Flüchtlinge auf Lampedusa vor dem großen neuen, aber abgeschlossenen Aufnahmelager stehen gelassen. Berlusconi erklärte dann, Italien sei durch den "Tsunami" von zirka 25.000 Flüchtlingen überfordert.
Dabei waren solche Flüchtlingszahlen ein Klacks im Vergleich zu den jährlich hunderttausenden von Zuwanderern und Flüchtlingen, die Deutschland in den frühen 90er Jahren zu verkraften hatte. Wir haben also zwei verschiedene Beispiele an der Schengen-Außengrenze: Italien wollte es nicht schaffen, Griechenland kann es nicht.
Was sollte man tun?
Flüchtlinge könnten über Resettlement-Programme des UNHCR direkt von bestimmten Aufnahmeländern aufgenommen werden. Über Burden Sharing kann man überlasteten Staaten an den Schengen-Grenzen helfen durch Investitionen in Infrastruktur, Technologie, medizinische Versorgung oder durch die Übernahme von Flüchtlingen. Wenn man die Schengen-Abkommen nicht in Frage stellen will, denen zufolge die Länder der ersten Kontrolle verpflichtet sind, sich um die Flüchtlinge zu kümmern, müssen wir bereit sein, diesen Ländern zu helfen. Statt dessen führt Europa einen Abwehrkrieg zur "Verteidigung" seiner Grenzen.
Das ist etwas hart formuliert.
Europa legt restriktiv und einseitig fest, wer überhaupt unter den Begriff "Flüchtling" fällt. Dabei ist die Herkunft meist wichtiger als das Flüchtlingsschicksal. Im Übrigen kommen weltweit nicht einmal zehn Prozent aller Flüchtlinge überhaupt nach Europa. Hinzu kommt, dass wirtschaftliche Antriebsfaktoren irregulärer Flüchtlingsbewegungen zum Teil von Europa selbst verschärft werden. Subventionierte, aber aus dem Markt genommene EU-Agrarprodukte landen nicht selten in Afrika, wo sie dann billiger sind als lokale Produkte. Kommerzialisierte Altkleidersammlungen ruinieren die einheimische Textilproduktion, vor den Küsten schwimmende Fischfabriken die afrikanische Küstenfischerei. Kein Wunder, dass dann die alten Fischkutter ruinierter Küstenschiffer zu irregulären Flüchtlingstransportern werden.
Solange die jetzige, einseitige Abwehr von Flüchtlingen an Europas Grenzen nicht balanciert wird durch kostenintensive und nachhaltige Programme zur Bekämpfung der Ursachen unfreiwilliger Wanderungen in den Ausgangsräumen, bleibt diese Flüchtlingsabwehr ein historischer Skandal, an dem spätere Generationen das Humanitätsverständnis im heutigen Europa messen werden. Und keiner wird dann sagen können, er habe das alles nicht gewusst.

Gibt es internationale Beispiele für gelungene Flüchtlingspolitik?
Selten. Die besten Beispiele sind die am meisten betroffenen Nachbarstaaten der Ausgangsräume, etwa in Afrika. Ein interessantes Beispiel bot Kanada, wo es ab und an eine fließende Grenze zwischen der Aufnahme von Einwanderern und von Flüchtlingen gab. Man hatte dort den Widersinn erkannt, sich einerseits um den Zuzug von Hochqualifizierten zu kümmern und andererseits Flüchtlinge zu deportieren, die eben diesen Kriterien entsprachen. Die diskrete Verwandlung von Flüchtlingen in Einwanderer wurde durch eine Einbindung der Medien erleichtert. Aber auch Kanada ist strenger geworden. Außerdem: Man sollte nicht leichtfertig ökonomische Interessen und humanitäre Pflichten vermischen. In Deutschland geschah das Gegenteil: Egal wie qualifiziert Flüchtlinge etwa aus dem Kosovo waren - sie wurden zurückgeschickt.
Prinzipiell hat die deutsche Politik bei Flüchtlingsaufnahme und Bleiberecht in den letzten Jahren manche Restriktionen abgebaut, aber mit unterschiedlichen Ergebnissen. Das hat auch damit zu tun, dass für die Umsetzung im föderalen Staat die Innenministerien und Ausländerbehörden der Bundesländer zuständig sind. Das schafft mitunter erhebliche Unterschiede bei der Behandlung von Flüchtlingen vor Ort.