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Beispiel Spanien: Wenn die Selbstheilungskräfte des Marktes versagen.|Die totale Deregulierung der Finanzmärkte und ihre Auswirkungen.
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Das Hauptproblem, mit dem wir in Europa konfrontiert sind, besteht in der enormen öffentlichen Verschuldung der Staaten, weil sie über ihre Verhältnisse gelebt haben.
Dieser Stehsatz wird uns immer wieder als Erklärung für die Krisensituation präsentiert. Der einzige Ausweg liege in einer rigorosen Sparpolitik. Darin sind sich alle wichtigen Entscheidungsträger einig: Kanzlerin Angela Merkel, die Europäische Zentralbank, die Europäische Kommission und der Internationale Währungsfonds.
Die Kritiker, die die orthodoxe Sparpolitik in Frage stellen oder ablehnen, werden als Extremisten gesehen, wenn sie die Sparmaßnahmen als grundlegend falsch und sozial unverantwortlich ansehen, die die Rezession verstärken und das soziale Elend fördern.
Bei näherer Ansicht der Daten wird klar, dass Spanien zu Beginn der Krise im Jahre 2007 einen Budgetüberschuss hatte. Verglichen mit dem EU-Durchschnitt war die öffentliche Verschuldung sehr gering (36,10% des PIB). Die Gehälter zählen zu den niedrigsten in der Eurozone. Auch der Mindestlohn zählt zu den niedrigsten der EU-15. Die öffentlichen Ausgaben pro Bewohner (Sozialausgaben eingeschlossen) zählen ebenfalls zu den niedrigsten. Schon vor der Krise gehörte der spanische Arbeitsmarkt zu den höchstflexibilisierten der EU.
Richtig ist, dass die Krise in Spanien durch eine Immobilenblase ausgelöst wurde. Wegen des krisenbedingten Wirtschaftseinbruchs nach deren Platzen stieg die öffentliche Verschuldung, die durch Sparpakete wettgemacht werden muss. Einige Banken und Sparkassen wurden nahezu insolvent und müssen durch Geldinjektionen der EU aufgefangen werden. Die öffentlichen Gelder an diese Banken umfassen bereits 10% des BIP Spaniens. Die Direktoren von Bankia mussten am 26. Juli im Parlament Rede und Antwort stehen. Ob aufgrund der Missstände jemals jemand zur Verantwortung gezogen werden wird, ist völlig unklar.
Bankia und die zu Bankia fusionierten Problem-Sparkassen standen traditionell im Machtbereich der konservativen Partei - jener Partei, die unter der Regierung Aznar durch die Lockerung der Baugesetze und Steuersenkungen für höhere Einkommen der Spekulation und dem unkontrollierten Bauboom den Weg ebnete und die jetzt mit absoluter Mehrheit ausgestattet aus der Krise führen soll.
Einsparungen und Finanzwetten ausschließlich zulasten des Sozialstaats
Die Lösung der Krise wird in der Verordnung von Einsparungen gesehen, die den Sozialstaat demontieren sollen. So wie es Draghi, Chef der EZB, in seinen Erklärungen im "Wall Street Journal" am 24.02.2012 zum Ausdruck brachte. Der Sozialabbau wird wahrscheinlich in Spanien sein maximales Ausmaß finden.
Die durch das Sparpaket der Regierung angespannte Situation wurde durch Finanzwetten darauf, dass sich Spanien spätestens im Herbst unter den Rettungsschirm stellen muss, noch verschärft. Dadurch stiegen die Zinsen für spanische Staatsanleihen auf bis zu 7%. Spanien kam dadurch an den Rand des Abgrundes, da die Finanzierung nicht mehr sichergestellt war.
Zudem verunsicherten noch die Aussagen des Präsidenten der EZB, Mario Draghi (selbst Bankier und früher Vizepräsident der Bank Goldman Sachs in London), dass die Europäische Zentralbank nicht zuständig sei für die Lösung der finanziellen Probleme der in Schwierigkeiten geratenen Länder, und die der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, dass ihre Unterstützung begrenzt sei. War damit bereits ein weiteres Fortbestehen für Spanien in der EU nicht mehr erwünscht und mehr oder weniger dem Untergang geweiht? Ist die Europäische Zentralbank eine unabhängige Institution und frei von Interessen bestimmter Länder? Hat die konservative Regierungspartei unter Mariano Rajoy nicht die strengen Auflagen, die von der Oppositionspartei als Barbarei bezeichnet werden und zunehmend soziale Konflikte hervorrufen, erfüllt?
Der spanische Außenminister García-Margallo und Ex-Premier Felipe González brachten öffentlich ihren Ärger zum Ausdruck, da Draghi als Chef der EZB tagelang keinen Handlungsbedarf sah, zu intervenieren. Die Kritik bezog sich auf die von Deutschland hineinreklamierte Bestimmung, die es der EZB im Gegensatz zu anderen Notenbanken verbietet, Staatsanleihen zu kaufen. Nur im Falle eines drohenden Kollaps darf sie intervenieren.
Die EZB ist allerdings berechtigt, Geld an Privatbanken zu verleihen. Dies geschieht derzeit mit einer Verzinsung von 0,75%. Die Banken kaufen damit Staatsanleihen von den in Schwierigkeiten geratenen Ländern wie Spanien und Italien mit einer Verzinsung zwischen 6 und 7%. Ein rundum sehr gutes Geschäft zulasten der Staaten.
Spanien ohne Zukunftsperspektive
Eine Zukunftsperspektive für Spanien ist praktisch nicht gegeben bei steigender Arbeitslosigkeit (24,6%) von mittlerweile 4,7 Millionen Arbeitslosen; bei 51% Jugendarbeitslosigkeit; bei 1,73 Mio. Haushalten, in denen alle Mitglieder arbeitslos sind; bei 2,5 Mio. Personen ohne jegliche Unterstützung. 26,4% der Spanier leben unter der Armutsgrenze. Der sukzessiv erfolgte Abbau des Wohlfahrtstaates ist längst realisiert, Spaniens Sozialstaat wird zunehmend reduziert auf karitative Hilfseinrichtungen für äußerst Notleidende.
Spanien wird mit einem Sparpaket konfrontiert, das laut Wirtschaftsexperten kontraproduktiv ist, da trotz aller bisher ergriffenen Maßnahmen (z.B. einer Arbeitsmarktreform mit dem Ziel, Kündigungen zu erleichtern und die Gehälter zu senken) die Arbeitslosigkeit steigt und das wirtschaftliche Wachstum nicht angeregt werden konnte. Eine lang andauernde
Rezession ist die Folge - das prognostiziert sogar der IWF.
Laut Studien werden die in einer zweiten Welle beabsichtigten Kürzungen (Pensionen, Gesundheitsbereich, Schul- und Erziehungsbereich sowie die Erhöhnung der Mehrwertsteuer) nicht das erreichen, was theoretisch beabsichtigt wird. Die Reduzierung des öffentlichen Defizits wird das Vertrauen der Finanzmärkte nicht herstellen. Das Niveau des Defizits
wird sich halten, da der Staat immer geringere Einnahmen haben wird und die Nachfrage weiter reduziert wird, die wirtschaftliche Aktivität wird keine Besserung erfahren.
Alternativen zum Sozialabbau sind vorhanden
Vicenç Navarro, Professor für Politik und Sozialwissenschaften an der Universität Barcelona und an der Johns Hopkins University (USA), beschreibt eine Alternative, die der neoliberalen Wirtschaftsphilosophie entgegengesetzt ist, wie der spanische Staat mehr Einnahmen lukrieren könnte.
Mit der Einhebung einer Vermögenssteuer könnte der Staat mindestens 2,1 Milliarden Euro mehr einnehmen. Eliminiert man die Steuersenkungen, die in den letzten 15 Jahren eingeführt wurden, brächte dies 2,5 Mrd. Euro zusätzlich jährlich. Eine höhere Besteuerung von Unternehmen mit sehr hohen Einnahmen könnten dem Staat weitere 5,3 Mrd. pro Jahr bringen.
Steuerhinterziehung größerer Unternehmen wird auf 44 Milliarden geschätzt. Eine Streichung der Unterstützung an die Kirche für den Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen beliefe sich auf 582 Millionen Euro. Das Einsparungspotential im militärischen Bereich wird mit 1,5 Mrd. Euro beziffert.
Warum werden solche Alternativen, die von einer sozialen Verantwortung getragen sind, nicht umgesetzt? Sollen weiterhin die Interessen einer vermögenden Minderheit mehr wert sein als die Lebensgrundlagen von Millionen Menschen?