Zum Hauptinhalt springen

Europa in schwerer See

Von Herfried Münkler

Gastkommentare

Zwischen Pandemie und globalen Herausforderungen eingeklemmt, muss die EU sich entscheiden, ob sie Akteurin oder Objekt sein will.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 3 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Die beiden ersten Jahrzehnte des neuen Jahrhunderts waren für die EU durch vier große Krisen geprägt: die Euro-Krise, die Migrationskrise, den Brexit und zuletzt die Corona-Pandemie. Diese Krisen waren so etwas wie Stresstests für die Krisenfestigkeit der Union. Dass die EU sie einigermaßen durchgestanden und unter dem Druck der von ihr freigesetzten Zentrifugalkräfte nicht zerfallen ist, kann als Grund zu einer gewissen Zuversicht für die Zukunft angesehen werden. Aber es ist dies kein Grund zu Sorglosigkeit beim Blick auf den Fortbestand des politisch geeinten Europa, denn im heurigen Herbst scheidet mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel diejenige Politikerin aus dem Amt, die in diesen Krisen ganz wesentlich für den Zusammenhalt Europas gesorgt hat - und es ist kaum vorherzusagen, wer ihr darin nachfolgen wird - als Integrationsfigur der europäischen Politik und als Regierungschef in Berlin.

Dem hörbaren Aufatmen in den Ländern der EU, seit die Impfkampagne Fahrt aufgenommen hat, steht damit die Ungewissheit gegenüber, ob Deutschland, das wirtschaftlich wichtigste Land der EU, auch in Zukunft einen dezidiert proeuropäischen Kurs steuern wird oder ob es dem Trend zu einer Priorisierung der nationalen Interessen folgen wird. Zugespitzt: Wird Deutschland auch in Zukunft eine Zentripetalkraft sein, die den Zentrifugaltendenzen in der EU entgegenwirkt? Oder wird es sich stärker mit sich selbst beschäftigen und seinen eigenen Interessen folgen? Es spricht vieles für die Fortschreibung des deutschen Investments in Europa als Lebensversicherung der EU - aber sicher ist das keineswegs.

Die Euro-Krise ist stillgelegt, aber nicht bewältigt

Werfen wir zunächst einen Blick auf die Krisen der zurückliegenden 15 Jahre: als Erstes auf die Euro-Krise, die wesentlich aus der Überschuldung der Staatshaushalte in den Südstaaten der EU erwuchs. Diese Krise ist inzwischen stillgestellt, aber nicht bewältigt. Sie ist aus den Medien verschwunden, aber spätestens, wenn die ökonomischen und fiskalischen Folgen der Corona-Krise bilanziert werden und man Programme zu deren Bewältigung auflegen wird, werden die Konflikte um die Disparitäten in der EU wieder da sein. Sie werden sich an der Frage entzünden, ob das 750-Milliarden-Euro-Projekt zur wirtschaftlichen Rekonstruktion der EU nun ein Durchbruch zur gemeinsamen Schuldenaufnahme war oder aber eine Ausnahme, die mit den Sonderbedingungen der Pandemie zu tun hatte.

Das gilt in ähnlicher Weise für den Umgang mit dem Migrationsdruck aus den im Süden und Südosten angrenzenden Räumen. Dieser ist infolge des EU-Türkei-Abkommens, der zuletzt erkennbaren Stabilisierung Libyens, des Abflauens des Bürgerkriegs in Syrien und wohl auch pandemiebedingt zurückgegangen, aber er dürfte schon bald wieder anwachsen: durch den Rückzug des Westens aus Afghanistan, das Aufflammen neuer Kriege im Nahen Osten und im nördlichen Afrika, den Klimawandel und seine Folgen, eine unberechenbar gewordene Türkei etc. Und dann stellt sich erneut die Frage, welches Land welche Kontingente an Flüchtlingen aufnimmt, und wie diejenigen, die das tun, sich gegenüber denen verhalten, die sich dem dezidiert verweigern.

Nationalpopulismus behindert das Krisenmanagement

Ist die Euro-Krise ein Konflikt zwischen dem Norden und dem Süden Europas, so ist die Migrationskrise einer zwischen dem Westen und dem Osten der EU. Das sind die beiden Bruchstellen der Union, um die es schon bald wieder gehen wird. Hat in der Vergangenheit der Nationalpopulismus von beiden Krisen profitiert, so wird er in den nächsten Jahren deren Bearbeitung erschweren, wenn nicht unmöglich machen. Allein durch seine Präsenz verkleinert er die Spielräume für politische Kompromisse.

Am ehesten bewältigt ist die durch das Brexit-Votum der Briten entstandene Krise - erstens, weil sich die Briten eine Reihe von Problemen eingehandelt haben, mit denen fertig zu werden sie Mühe haben, weil ihnen mit dem Machtwechsel in Washington der US-Rückenwind fehlt und sie mit den Zentrifugalkräften im eigenen Land vermehrt zu tun haben. Dass die Impfkampagne auf der Insel um einiges schneller in Gang kam als auf dem Kontinent, dürfte darüber schnell in Vergessenheit geraten. Wie die USA hat Großbritannien von einem forcierten Egoismus und Impfstoffprotektionismus profitiert, den es so - bei allen Problemen - in der EU nicht gegeben hat. Die EU wird in Zukunft ihre eigenen Produktionslinien stärken, um für einen Raum mit 400 Millionen Menschen Vorsorge zu treffen, und das wird unter den sich entwickelnden protektionistischen Bedingungen sehr viel günstiger sein, als es das für Briten ist.

Zweitens hat bei den Nationalpopulisten auf dem Kontinent die Idee eines EU-Austritts erkennbar an Attraktivität verloren und ist aus den Parteiprogrammen weitgehend verschwunden. Der Brexit hat in der Summe den Zusammenhalt Europas eher verstärkt als geschwächt, und das wird in den nächsten Monaten einen entschiedeneren Kurs gegenüber Ungarn und Polen als Provokateuren des demokratischen wie rechtsstaatlichen Selbstverständnisses der Europäer nach sich ziehen. Mit wohlwollender Unterstützung aus Washington wird man nach dem Ende der Ära Donald Trumps in Warschau und Budapest nicht rechnen können.

Europas Zentren bleiben auf Zuwanderung angewiesen

Bleiben noch das soziale Gefälle in der EU und die demografischen Probleme, in denen sich Europa seit Jahrzehnten befindet. Polen, Tschechien und die baltischen Staaten haben wirtschaftlich erheblich aufgeholt; Sorgenkinder sind dagegen die meisten Balkanstaaten sowie Bulgarien und Rumänien. Gleichzeitig ist man in vielen Staaten Europas auf Saisonarbeiter aus diesen Räumen angewiesen, um bestimmte Wirtschaftszweige am Leben zu halten. Daneben gibt es vor allem geopolitische Gründe, die weiche Südostflanke der EU vom Schwarzen Meer über die Ägäis bis ins östliche Mittelmeer zu stabilisieren.

Währenddessen bleiben die wirtschaftlichen Zentren Europas auf Zuwanderung angewiesen. Die defizitäre biologische Reproduktion ist durch soziale Reproduktion zu ergänzen: Eine niedrige Geburtenrate wird durch Zuwanderung kompensiert. Das ist historisch nicht neu, und so, wie Europa im 19. Jahrhundert ein Raum der Auswanderung war, ist es seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem Raum der Zuwanderung geworden. Eingliederung in den Arbeitsprozess, dazu reguläre Beschäftigungsverhältnisse sind der Schlüssel der Integration, zumal dann, wenn dies für die Zugewanderten mit einer generationenübergreifenden gesellschaftlichen Aufstiegsperspektive verbunden ist.

Empowerment, Befähigung durch Kompetenzerwerb, ist die Voraussetzung von dessen Gelingen. Der Schule, den Vereinen, der Zivilgesellschaft insgesamt fällt hier eine zentrale Rolle zu. Dafür müssen die Menschen gewonnen werden: die seit längerem hier Ansässigen ebenso wie die Neuankömmlinge. Der unaufhaltsame weltwirtschaftliche wie weltpolitische Abstieg Japans, das sich gegenüber Zuwanderung abgeschottet hat, kann hier als warnendes Beispiel gelten. Vitale Gesellschaften brauchen ständige Innovation, und deren Träger sind oft dynamische Fremde, die auf Dauer keine Fremde bleiben wollen.

Eine doppelte geopolitische Herausforderung für die EU

Bleibt zum Abschluss noch ein Blick auf die weltpolitische Entwicklung, in der die EU sich zu behaupten hat. Der Prozess der Globalisierung hat sich entschleunigt, und das Projekt einer weltpolitischen Ordnung, die nicht durch Staaten, sondern durch internationale Institutionen sowie transnationale Organisationen bestimmt wird, ist gescheitert. Russland und China, aber auch die USA beharren auf ihren Souveränitätsansprüchen, sind wesentlich an ihren eigenen Interessen orientiert, und so werden wir wohl zwangsläufig in eine Weltordnung hineingehen, die durch Einfluss- und Interessensphären geprägt ist und in der es Peripherien gibt, die zu stabilisieren einem Zentrum obliegt.

Die USA, China, Russland, wohl auch die EU und vermutlich Indien werden die Hauptakteure einer solchen Weltordnung sein, und dahinter wird sich eine zweite Reihe von Akteuren aufbauen, die von den großen Playern umworben wird. Konflikträume werden dabei die Überschneidungsräume der großen Akteure werden und daneben die Peripherien, in denen Investitionen in Stabilität und Prosperität nicht sonderlich attraktiv, aber vonnöten sind, um gewaltige und unkontrollierbare Migration zu vermeiden. Will die EU bei der Ausgestaltung dieser neuen Weltordnung Akteur und nicht Objekt sein, so muss sie sich auf diese doppelte Herausforderung vorbereiten.

Einen Vorgeschmack darauf geben Russland im Donbass, im Schwarzmeerraum und teilweise auf dem Balkan, China mit der Seidenstraßenstrategie in Süd- und Südosteuropa und die USA mit ihrer Vorstellung, die Europäer hätten der US-Politik gegenüber China zu folgen. Diesen gewaltigen Herausforderungen sind die Europäer nur gemeinsam und geschlossen gewachsen. Die beiden großen Brandherde sind dabei jener Raum, der wie ein Pfahl vom Kaukasus bis in den Westbalkan nach Europa hineinragt, und die gegenüberliegende Mittelmeerküste, also Nordafrika bis zur Sahelzone. Und als ein auf Ex- wie Importe angewiesener Raum wird die Sicherheit der Seelinien für Europa lebenswichtig bleiben. Dafür müssen maritime Fähigkeiten bereitgestellt werden - erst recht nach dem Brexit. Ein kleiner Trost dabei: Derartige Herausforderungen können auch zusammenschweißen.

Der vorliegende Text ist auch bereits in der "Kleinen Zeitung" erschienen.