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Europa ist mehr

Von Reinhard Göweil

Leitartikel
Chefredakteur Reinhard Göweil.

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Am 21. November 2016 trug Außenminister Sebastian Kurz bei einer Veranstaltung der Bertelsmann-Stiftung in Berlin seine Sicht auf Europa vor. Im Kuratorium der Bertelsmann-Stiftung sitzt Wolfgang Schüssel, der bei diesem Vortrag ebenfalls anwesend war und die Schlussworte sprach. Ziemlich genau elf Monate später trug Kurz nun europapolitische Positionen in Wien vor. Inhaltlich gab es dabei kaum Unterschiede zum November 2016 - mit der Ausnahme, dass aus den Gedanken des Sebastian Kurz nun die europapolitische Position der ÖVP geworden ist. Und die schickt sich an, mit ihm am 15. Oktober das Kanzleramt zu "erobern".

Dass viele Kurz-Ideen auch von Schüssel vertreten wurden und werden, ist nicht verwerflich. Doch die Welt hat sich mittlerweile doch sehr verändert. Was Anfang der 2000er Jahre noch einigermaßen national zu lösen war, ist es mittlerweile ganz sicher nicht mehr. Digitalisierung und Globalisierung verändern die Gesellschaften mit einer Rasanz, die nationale Systeme nur ratlos zurücklassen. Google wurde 1998 in Kalifornien gegründet, heute sorgt die Marktmacht des Konzerns für Sorgenfalten in Europa. Apple brachte 2008 das erste internetfähige Smartphone auf den Markt. Die 2007 ausbrechende Finanzkrise führte der Welt eine globalisierte Finanzwirtschaft vor Augen, die ihr Tun nicht einmal mehr selbst verstand.

Chinas Wirtschaftsleistung hat sich seit dem Jahr 2000 verfünffacht. Und seit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten bedroht eine neue Form des Protektionismus den Welthandel.

Die europapolitischen Positionen der neuen ÖVP (aber auch anderer Parteien) klingen in dieser Einbettung eher retro, weil sich die Aufgabe Europas nicht im Schutz von Außengrenzen und der Vereinbarung von Freihandelsabkommen erschöpfen kann. Soll Europa in dieser Welt eine Stimme erhalten, die der wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Stärke entspricht, ist es nötig, nationale Kühe - so heilig sie sein mögen - zu schlachten. Und es wäre die Aufgabe der Politik, dies den Bürgern vor Augen zu führen, die ob der Komplexität versucht sind, zu einfachen Antworten zu greifen.

Schüssel würdigte im November 2016 Kurz’ Ausführungen und sagte: "Demokratie braucht Drama." Da hat er recht, aber das auf dem Spielplan stehende Stück ist mittlerweile ein ganz anderes.