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Europa ist zum Schrumpfen verurteilt

Von Heiner Boberski

Wissen
Lutz: Schlüsselvariable ist die Bildung. Foto: ÖAW/R. Herbst

Experten uneinig über Entwicklung der Lebenserwartung. | Afrika ist auch in Zukunft das große Sorgenkind der Welt. | "Wiener Zeitung": Wie groß ist derzeit die Weltbevölkerung und wie sehr wird sie mutmaßlich noch wachsen?


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Wolfgang Lutz: Das 20. Jahrhundert war durch eine Bevölkerungsexplosion gekennzeichnet - leicht zu merken: von 1,6 Milliarden im Jahr 1900 auf 6,1 Milliarden im Jahr 2000. Inzwischen halten wir bei etwa 6,7 Milliarden. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird die Zahl auf 7,5 bis 8 Milliarden steigen, selbst wenn die Geburtenrate sehr schnell und überall fällt, denn es gibt noch sehr viele junge Menschen, daher steigt auch die Zahl von Frauen im gebärfähigen Alter. Selbst wenn ab morgen alle Frauen auf der Welt nur noch zwei Kinder bekommen, wird die Bevölkerung trotzdem um 1,5 bis 2 Milliarden zunehmen. Wir rechnen aber mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass wir in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts einen Gipfel erreichen werden, wahrscheinlich knapp unter 9 Milliarden Menschen, und dann die Zahl wieder sinkt.

Welche Rolle spielt die steigende Lebenserwartung?

Sie spielt eine entscheidende Rolle, in der Frage, wie sie sich weiter entwickelt, gehen freilich die Expertenmeinungen weit auseinander. Die einen sagen, dass die Lebenserwartung gleich schnell wie bisher steigen wird: Ein Limit ist nicht in Sicht, und wenn, so liegt es sicher jenseits von 120 Jahren. Die anderen sagen: Es gibt überall biologische Limits, vor allem ist es unser ungesunder Lebensstil, der uns krank macht. Das wird dazu führen, dass sich die Lebenserwartung kaum weiter erhöhen wird. Man schätzt, die Zahl der Über-80-Jährigen, momentan etwa 2 Prozent der Bevölkerung, wird sich in den nächsten Jahrzehnten auf 6 Prozent erhöhen, in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ist dann alles möglich - dass sie bei 6 Prozent bleibt, wenn die Pessimisten recht haben, oder dass sie sich auf unglaubliche 30 bis 40 Prozent der Gesamtbevölkerung erhöht, wenn die Optimisten recht haben.

Wie entwickelt sich die Lebenserwartung in den einzelnen Weltteilen?

Alle Länder der Welt hatten in den letzten 30 Jahren deutliche Steigerungen der Lebenserwartung - mit zwei großen Ausnahmen: afrikanische Länder, die von Aids betroffen waren, und die Länder Osteuropas, wo sich enorme soziale Umbrüche vollzogen haben, besonders Russland und die Ukraine. Dort ist, besonders bei Männern, die Lebenserwartung sogar zurückgegangen. Ursache ist vor allem der Lebensstil. Auch bei den Frauen ist die Lage schlechter als in Westeuropa, aber der Unterschied zu den Männern - in Westeuropa sechs bis sieben Jahre - beträgt dort zehn bis zwölf Jahre.

Holen Männer anderswo in der Lebenserwartung auf?

Historisch ist es so, dass in Ländern mit starker Frauendiskriminierung, etwa Indien, die Lebenserwartung für Frauen bis vor zehn Jahren sogar niedriger war als für die Männer, denn wenn ein Mädchen krank geworden ist, ist man eher nicht zum Arzt gegangen. Das war aber eine Ausnahme, mittlerweile gibt es kein Land der Welt mehr, wo die weibliche Lebenserwartung nicht höher wäre als die männliche. Das geht auch auf biologische Gründe zurück. Vom Tag der Empfängnis an hat der männliche Embryo eine höhere Sterbewahrscheinlichkeit als der weibliche.

Ein Kollege hier hat ein interessantes Experiment gemacht und die Lebenserwartung von Mönchen und Nonnen in deutschen Klöstern untersucht. Bei den Nonnen war die Lebenserwartung ähnlich wie bei Frauen allgemein, bei den Mönchen aber drei bis vier Jahre höher als sonst in der Gesellschaft. Das zeigt, welche Rolle der Lebensstil spielt, er ist bei Männern in der Regel weniger gesund als bei Frauen. Auch Bildung ist ein wichtiger Faktor: Der Unterschied in der Lebenserwartung von Hochgebildeten und Pflichtschulabsolventen beträgt in den meisten europäischen Ländern sieben oder mehr Jahre. Die Gebildeten leben in der Regel deutlich länger.

Wie entwickeln sich die nördlichen Industrieländer?

Das ist in erster Linie eine Frage der Geburtenentwicklung und sekundär eine der internationalen Migrationsströme. Europa ist zum Schrumpfen verurteilt, vor allem Osteuropa, das schrumpft jetzt schon stark, auch in absoluten Zahlen. Bulgarien hatte um 1990 noch 9 Millionen Einwohner, heute hat es nur noch 7,5 Millionen. Da spielen drei Faktoren eine große Rolle: Auswanderung, niedrige Geburtenrate und sehr hohe Sterberate. Die Ukraine schrumpft sehr schnell, Russland wird schrumpfen, aber noch gibt es Zuwanderung von ethnischen Russen aus Teilen der ehemaligen Sowjetunion. Als Anteil an der Weltbevölkerung wird ganz Europa zurückgehen. Die USA zeigen ein anderes Muster. Sie haben jetzt 300 Millionen Einwohner und erwarten, dass sie auf eine halbe Milliarde wachsen werden. Das geht vor allem auf Zuwanderung zurück, aber auch auf eine deutlich höhere Geburtenrate als bei den Europäern.

Wo wird die Bevölkerung am stärksten wachsen?

Zweifellos in Afrika - trotz Aids. Afrika hat südlich der Sahara 700 Millionen Einwohner, das wird sich voraussichtlich auf über zwei Milliarden verdreifachen. Interessant ist China. Die Geburtenrate ist schon sehr niedrig, auf europäischem Niveau, aber sie haben noch eine extrem junge Bevölkerung und viele Frauen im Gebäralter, die Bevölkerung wird in den nächsten 15 bis 20 Jahren noch zunehmen, aber dann beginnt sie wahrscheinlich zu schrumpfen. Wichtig ist noch Indien, das ist ein geteiltes Land. Im Süden ist die Geburtenrate schon niedrig, im Norden noch hoch. Die absolute Schlüsselvariable ist die Bildung der Frauen. Besucht ein hoher Prozentsatz von Mädchen nicht einmal die Grundschule, dann wird die Geburtenrate hoch bleiben.

Wird weltweit der Anteil der Hungernden sinken?

Hunger ist vor allem ein Verteilungsproblem. Fast alle Hungersnöte der letzten Jahrzehnte gab es in Jahren mit besonders guter Ernte, zeigt eine berühmte Studie des indischen Nobelpreisträgers Amartya Sen. Die Welt könnte locker 15 bis 20 Milliarden Menschen ernähren. Es ist ein Verteilungs- und Kostenproblem.

Abgesehen von Afrika bin ich sehr optimistisch. Asien hat das durch sein Wirtschaftswachstum im Wesentlichen im Griff bis auf Afghanistan und einige rückständige Länder im arabischen Raum. In Afrika sind die Bevölkerungswachstumsraten aber hoch und die Fortschritte bei Schulbildung bescheiden. Da sehe ich schon die große Gefahr von Hungersnöten, wobei noch andere Faktoren, etwa der Klimawandel, erschwerend dazukommen. Afrika ist das große Sorgenkind der Entwicklung.

Dr. Wolfgang Lutz leitet das Weltbevölkerungsprogramm am Internationalen Institut für angewandte Systemanalyse (Iiasa) in Laxenburg und das Institut für Demografie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien.