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Dass zwei Millionen Iren über die Zukunft von 500 Millionen Europäern abstimmen können, muss an einer falschen Geschäftsgrundlage liegen.
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Die Formen der direkten Demokratie sind schon immer auch von Völkern bewundert worden, denen die Verfassung dafür keine Chance gibt. Sie schauen mit leuchtenden Augen auf die Schweizer und deren demokratisches Heidi-Idyll. Dies hat ja wirklich etwas für sich und funktioniert manchmal sogar prächtig.
Beispielsweise 1992, als die Schweizer zum Entsetzen ihrer eigenen Regierung mehrheitlich den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum verweigerten. Damit bewahrten sie die EU davor, sich etwa einmal pro Jahr in irgendeiner angeblichen Schicksalsfrage einem eidgenössischen Volkstribunal unterwerfen zu müssen, das nur mit ja oder nein urteilt. Aus dem Schweizer Nein zu Europa ist eine passable politisch- merkantile Partnerschaft geworden, in deren Rahmen man aushandelt, was für beide Seiten jeweils das Beste ist.
Verglichen damit ist der Zug für die Iren irgendwie verkehrt abgefahren, sie haben zur EU nicht nein gesagt, sondern gehören dazu. Sie sollen am Donnerstag über den EU-Reformvertrag abstimmen und vielleicht wollen sie auch. Direkte Demokratie heißt für sie seit jeher, dass sie über das mitreden, was auf ihrer grünen Insel passiert, die knapp so groß ist wie Österreich und halb so viele Bewohner hat. Dort haben sie den Überblick. Die Republik ist aber 1973 ein tüchtiges Mitglied der EG - der heutigen EU - geworden, hat von dieser überdurchschnittlich profitiert und fühlt sich jetzt voll eingespannt in deren Widersprüche.
Auf der Strecke zwischen Dublin und dem Schwarzen Meer sind die wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Unterschiede so gewaltig, dass die Zukunftsschmiede in der EU-Hauptstadt Brüssel eine großartige Maschinerie geschaffen hat, um die Unterschiede auszugleichen, wenn sie störend auf das Ganze wirken. Meist mit den einfachsten Mitteln, auf die sich Menschen üblicherweise verlassen - mit Geld.
Da gibt es Konvergenzkriterien, Sozial- und Kohäsionsfonds, Regionalpolitik, einen Stabilitätspakt und einen Fonds für die Entwicklung des ländlichen Raums. Aus dem alten klapprigen Pferdewagen ist ein eindrucksvolles, gewichtiges Gefährt mit Vierradantrieb geworden, das aber dennoch manchmal so funktioniert wie ein Pferdewagen.
Weil nämlich die EU nicht in der Lage ist, allen ihren knapp 500 Millionen Bürgern ein gemeinsames Abstimmungsrecht in wesentlichen Fragen zu gewähren, mutet man jetzt den Iren zu, die Arbeit stellvertretend zu erledigen. Attac-Missionare reisen nach Irland und fordern ein klares Nein zum Reformvertrag, die deutsche Kanzlerin Angela Merkel taucht in Dublin auf und fordert ein klares Ja - beides im Namen von ganz Europa.
Ein nationales Plebiszit mit Veto-Wirkung auf alle anderen 26 Partnerstaaten ist ein Humbug. Die EU muss damit leben. Die Iren haben 2001/02 sogar zwei Mal abgestimmt, weil beim ersten Mal das Ja nicht gelang, das die europäische Dimension erforderte. Man muss sie bewundern. Sollte aber am Donnerstag ein Nein zum Reformvertrag herauskommen - dann wäre das europäische Debakel keine irische Perfidie.
Die Europäische Union hat noch keinen Mechanismus geschaffen, die Pluralität der Meinungen nach dem Mehrheitsgrundsatz zu verkraften. Gäbe es ihn, wäre das Nein kein europäisches, sondern ein irisches Problem. Die Iren müssten - ähnlich wie die Schweizer - schauen, wie sie mit der EU zurecht kommen. Stattdessen tut die EU so, als müssten plötzlich alle Gälisch lernen.
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