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Europa liebt das Leiden - aber nicht die Leidenden

Von Hermann Sileitsch

Analysen

Dummheit, Rachegelüste? Manche wollen offenbar keine Zukunft für Griechenland.


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Europa liebt das Leiden. Anders ist nicht zu erklären, dass hochrangige Politiker ständig mit einem "Grexit", also dem Ausstieg oder Rausschmiss der Griechen aus dem Euro, kokettieren. Deren Premier Antonis Samaras hat schon recht: Niemand, der bei Trost ist, investiert seine Euros in einem Land, wenn er fürchten muss, dafür Drachmen (also bestenfalls die Hälfte) zurückzuerhalten. Die Gerüchte und Spekulationen sind also ein Garant dafür, dass Athens Privatisierungen scheitern und sich die Rückkehr an den Kapitalmarkt bis Sankt Nimmerlein verschiebt. Was die Kosten für alle hochtreibt.

Gut also, wenn Deutschlands Kanzlerin aufruft, die Kakophonie zu beenden (an der ihre Partei übrigens nicht unbeteiligt ist). Gut auch, wenn sie den Druck aufrecht erhält, damit Griechenland seine überfälligen Reformen wirklich durchzieht und nicht zu einem Fass ohne Boden wird.

Was Angela Merkel (noch) nicht sagt: Griechenland wird mehr Zeit für Reformen brauchen. Der bisherige Plan ist spätestens durch die zwei Wahlen obsolet. Das Reformprogramm ist "off track" - kein großes Geheimnis.

Im Memorandum, dem Pflichtenheft, das Athen unterschrieben hat, ist diese Option - nämlich eine Verlängerung der Fristen über 2014 hinaus - sogar explizit vorgesehen. Die Wortwahl von Merkel und François Hollande lässt auch viel Deutungsspielraum offen: Wenn es "Glaubwürdigkeit" braucht, um das Vertrauen der Märkte wieder zu erlangen, dann müssen Griechenland glaubwürdige Ziele gesteckt werden - keine Fantasievorgaben, an die ohnehin kein Investor mehr glaubt.

Das politische Problem bleibt jedoch: Wie können die Geberländer ihrer Bevölkerung verkaufen, dass Griechenland noch weitere Hilfskredite benötigen wird?

Hilfen aus Eigeninteresse

Zwar hat Samaras versichert, mehr Zeit für Reformen bedeute nicht automatisch mehr Geld. Nett, aber wie soll das gehen? Die Erläuterungen klangen eher nach Taschenspielertricks. Laut griechischen Regierungsdokumenten, die die "Financial Times" gesehen hat, wären 20 Milliarden Euro nötig. Die Finanzierung könnte über die Ausgabe von Geldmarktpapieren, das Anzapfen von IWF-Kreditlinien oder eine verspätete Rückzahlung von Geld aus dem ersten Rettungspaket von 2010 gelingen, hieß es. Dann wäre kein drittes Hilfspaket nötig. Buchungsfinessen und ein Finanzringelspiel mit der Notenbank? So etwas schafft kein Vertrauen.

Also noch einmal die Frage: Wie können die Geberländer ihrer Bevölkerung verständlich machen, dass für Griechenland noch mehr Geld auf den Tisch muss?

Erstens: Es geht um Eigeninteressen. Bisher mussten in Griechenland nur die privaten Geldgeber - Banken, Versicherer, Fonds - Verluste hinnehmen. Die EZB und die Hilfskredite der Euroländer kamen beim Schuldenschnitt ungeschoren davon. Das würde sich ändern, wenn Griechenland aus dem Euro und in die Staatspleite getrieben würde: Aus den Hilfskrediten würden schlagartig Verluste.

Zweitens: Es wäre absurd, die Hilfen jetzt abzudrehen, wo der Großteil der Schmerzen überwunden wäre. Erstmals gibt es wieder gute Nachrichten: Es gibt eine einigermaßen stabile Regierung in Athen. Nach fünf Jahren heftigster Rezession ist die griechische Wirtschaftsleistung ein Quartal lang im Vergleich zum Vorquartal hauchdünn im Plus gelegen - ein zarter Spross in endloser Wüste, aber immerhin.

Drittens: Griechenland hat, allen Versäumnissen zum Trotz, einen rekordverdächtigen Sparkurs hingelegt. Laut dem Troika-Bericht vom März ist das Primärdefizit von 10,6 Prozent (2009) auf 2,4 Prozent (2011) gesunken und könnte 2013 einen Überschuss ausweisen. Athen würde (abgesehen von Tilgungen und Zinsen) also keine neuen Schulden machen. Das heißt auch: Neue Hilfskredite flössen nahezu 1:1 an die Geldgeber zurück - hilf den Griechen, und du hilfst dir selbst.

Es sei denn, das Land wird aus dem Euro und in die Pleite getrieben. Dann sind die Hilfen futsch. Wie sinnvoll wäre das? Gar nicht. Aber: Europa liebt das Leiden . . .