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"Europa muss bescheidener werden"

Von Teresa Reiter

Politik
"Wir brauchen mehr mutige Führungspersönlichkeiten."
© Reiter

Der Ökonom Philippe Legrain analysiert den Umgang der Europäischen Union mit der Finanzkrise. Ihm zufolge haben strategische Fehler der europäischen Institutionen dabei zu gefährlichen sozialen Spannungen in ganz Europa geführt.


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"Wiener Zeitung": Sie kritisieren immer, wieder wie die Europäische Union mit der Finanzkrise umgegangen ist...Philippe Legrain: Die deutsche Regierung unter Angela Merkel, die Europäische Kommission und die Europäische Zentralbank (EZB) haben katastrophale strategische Fehler gemacht und damit, was anfangs eine bloße Finanzkrise war, in eine ausgewachsene Wirtschaftskrise verwandelt. Sie haben Banken gerettet und sich geweigert untragbare Schulden abzuschreiben, sowohl staatliche als auch private. Und statt das Wachstum anzuregen haben sie auf kollektive exzessive Austerität gebaut, die sogar zu noch höherer Staatsverschuldung geführt hat. Weitere Fehler haben zu einer Panik geführt, die beinahe die Eurozone zerstört hätte. Und jedes Mal reagierte man mit weiteren Austeritätsmaßnahmen. Nachdem die EZB endlich diese Panik, die sie selbst kreiert hat, stoppte, heißt es: Seht mal, unsere Strategie hat funktioniert. Das ist doch kompletter Unsinn.

Was waren die Folgen?

Die Eurozone hatte eine unnötig lange und tiefe Rezession, länger und tiefer noch als die USA. Schauen Sie sich nur Österreich an. Gemessen an europäischen Standards geht es Österreich recht gut. Vor der Krise hatte das Land ein Wachstum von etwa zwei Prozent jährlich. In den letzten sechs Jahren, seit der Krise, ist die österreichische Wirtschaft um weniger als zwei Prozent insgesamt gewachsen. Ist das etwa der Erfolg, von dem die EZB spricht?

Glauben Sie, Brüssel hat nach der Griechenland-Krise überreagiert?

Nein, aber sie haben einfach das völlig Falsche getan. Die griechische Staatsverschuldung war offensichtlich untragbar. Man hätte sie abschreiben müssen. Aber das hätte Verluste für französische und deutsche Banken bedeutet, die große Geldsummen an Griechenland verliehen hatten. Stattdessen haben politische Entscheidungsträger beschlossen, so zu tun, als ob Griechenland nur temporäre finanzielle Schwierigkeiten hätte und sie verliehen das Geld der europäischen Steuerzahler dorthin. Anstatt Europa zu einen und kollektiv zu versuchen, die Banken zu bremsen, die uns in diesen Schlamassel gebracht haben - darunter auch viele österreichische Banken, die große Fehler gemacht haben -, hat man Europa gespalten. Es gab plötzlich Gläubiger, wie etwa Deutschland, und Schuldner. Statt einer Union von gleichberechtigten Staaten, wurde die EU also zu etwas, das die Gläubigerstaaten benutzten, um den Schuldnern ihren Willen aufzuzwingen. Das ist eine Tragödie, die die EU zerstört.

Ist diese Entwicklung eine Gefahr für innereuropäische Solidarität?

Sie ist sogar das genaue Gegenteil davon. Im Fall von Griechenland und Irland etwa haben Deutschland und andere Länder damit gedroht, diese Staaten aus der Eurozone hinauszuwerfen. Das haben sie getan, weil sie wussten, dass die Iren und Griechen verzweifelt ein Teil Europas sein wollten. Sie wussten, dass sie Angst davor hatten, den Euro zu verlieren, und sie benutzten das, um ungerechte Bedingungen an sie zu stellen. Das ist das genaue Gegenteil von Solidarität.

Hat das dazu geführt, dass andere Länder sich gegenüber Deutschland benachteiligt oder sich von Deutschland bevormundet fühlen?

Ich glaube, dass die Europäer realisiert haben, dass Regierungen die Interessen der Banken über die ihrer Bürger gestellt haben. Das Resultat davon ist, dass Deutschland eine absolut dominante Position hat. Schlimmer noch, diese dominante Macht verfolgt eine falsche politische Linie. Es ist eine Sache, eine Art Imperialismus zu haben, wenn dieser gutartig ist, aber wenn es ein inkompetenter und ungerechter Imperialismus ist, dann ist der Ärger darüber natürlich noch größer. Die Forderungen, die Deutschland stellt - egal ob das jetzt die Sicherung der deutschen Banken ist, oder Austerität und Lohnkürzungen durchzusetzen -, untergraben die europäischen Volkswirtschaften und auch die Zustimmung zur Europäischen Union. Um Europa zu retten, müssen wir es verändern.

Hat das etwas an der Art geändert, wie Deutschland in Europa wahrgenommen wird?

Die Fehler wurden von einer einzigen Regierung gemacht, nämlich von Angela Merkels. Sie war während dieser ganzen Zeit Kanzlerin. Die Verantwortung liegt bei ihr und Wolfgang Schäuble, und niemand anderem.

Wird das denn in Europa auch so wahrgenommen?

Ich sage ja nicht, dass alles was Angela Merkel je getan hat, falsch ist. Außerdem gibt es zum Beispiel in Osteuropa Länder, die von der Krise nicht so hart getroffen wurden wie andere und die stark von den Investitionen deutscher Firmen profitieren. Sie sehen das natürlich anders. Ungeachtet dessen ist der deutsche Weg der falsche, und zwar auch für Deutschland selbst. Jeder glaubt, dass Deutschland so ein riesiger wirtschaftlicher Erfolg ist, aber nach Abzug der Inflation verdienen die Deutschen weniger als im Jahr 1999. Kann man das eine erfolgreiche Volkswirtschaft nennen? Ich glaube nicht.

Die EZB hat immer wieder drastische Mittel - wie etwa die Senkung des Leitzinses auf ein Rekordtief - eingesetzt, um die Konjunktur anzukurbeln...

Das Problem in Europa ist, dass wir nicht genug Nachfrage haben. Die Menschen geben nicht genug aus. Der Grund dafür ist, dass sie hohe Schulden haben. Wir müssen diese Schulden abschreiben, oder die Regierung muss die Wirtschaft stützen, während die Menschen sie zurückzahlen. Weil wir diese Dinge aber nicht tun, wird von der EZB erwartet, eine Reihe Dinge zu unternehmen, die viele Leute für eine schlechte Idee halten und die nicht sehr effektiv sind. Die Banken haben schon sehr viel Liquidität. Sie brauchen nicht noch mehr. Auch sie sind darauf angewiesen, dass die Menschen Geld ausgeben.

Sie verwenden in Ihrem Buch den Begriff "Europäischer Frühling". Bauen sich aufgrund der anhaltenden Konjunkturschwäche und aufgrund dessen, dass gerade eine ganze Generation erwachsen wird, die nichts anderes als die Krise kennt, Spannungen in Europa auf, die sich auf unerwartete Weise entladen könnten?

Ich glaube, dass wir das bereits jetzt sehen. Es gibt soziale Spannungen, die immer größer werden und die auch politische Reibungen verursachen. Alte Stereotype, wie etwa, dass Südeuropäer faul sind, werden wiederbelebt und neuer Groll entsteht. Als Angela Merkel das letzte Mal in Athen war, ging dort eine Bombe hoch. Bei den EU-Wahlen im Mai haben die Extremisten sich extrem gut geschlagen, auch hier in Österreich. Die Zustimmung zur EU war noch nie niedriger. Man sollte nicht denken, dass es nicht schlimmer werden kann. Da ist diese ganze Generation junger Menschen, die noch nie einen Job hatte und auch keine Hoffnung darauf, in der Zukunft einen zu bekommen. Wenn sich die Wirtschaft dann irgendwann erholt, wird es neue junge Leute geben, die diese Jobs bekommen. Das ist nicht nur tragisch für diese jungen Leute, sondern könnte auch furchtbare Folgen für die gesamte Gesellschaft haben, denn diese Menschen werden völlig zu Recht sagen, dass das System für sie nicht funktioniert.

Halten Sie sich selbst für einen Euroskeptiker?

Nein. Ich bin pro Europa. Aber eben weil ich will, dass Europa erfolgreich ist, sage ich, dass es sich verändern muss. Die Leute in Brüssel haben so den Bezug zu den Konsequenzen ihrer Handlungen verloren, dass sie dazu tendieren, ihren Kopf in den Sand zu stecken. Werden sie kritisiert, so tun sie das als anti-europäische Haltung ab. Aber pro-europäisch zu denken, heißt zu sagen, dass Europa sich ändern muss, wenn wir es retten wollen.

Fehlt es Europa und den europäischen Führungspersönlichkeiten an einer Vision davon, wie Europa in zwanzig oder dreißig Jahren aussehen soll?

Ich glaube, was sehr auffällig ist, nicht nur in Brüssel, sondern auch auf nationalem Level, ist, dass wir keine wagemutigen Führungspersönlichkeiten mehr haben, die eine genaue Vorstellung davon haben, was sie erreichen wollen. Wir haben eher scheue Technokraten mit begrenzten Ambitionen, die schon damit glücklich sind, einfach auf ihrem Posten zu bleiben. In guten Zeiten ist das wahrscheinlich okay. Die Leute machen einfach weiter mit ihrem Leben und niemand will etwas ändern. Aber wenn die Zeiten schlecht sind und ein Land der Führung und Veränderung bedarf, dann ist das desaströs. Wir brauchen mutige Führungspersönlichkeiten, politische Unternehmer und neue Leute, die frischen Wind in die Sache bringen. Gleichzeitig braucht man ein Volk, das Veränderung fordert.

Jeden Tag passiert eine Menge in der Weltwirtschaft und -politik. Es gibt nicht nur Indien und China und die Brics-Bank (Entwicklungsbank von Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, Anm.) sondern auch Dinge wie islamisches Bankenwesen. Ist unser Blick auf Probleme wirtschaftlicher oder politischer Natur in Europa zu isoliert, zu nach innen gerichtet?

Es ist bemerkenswert, wie sehr die Menschen in Brüssel dazu neigen, nur nach innen zu schauen. Einer der Gründe, warum ich denke, dass ich ein gutes Verständnis von der Krise hatte, ist, dass ich in meinem ersten Job beim britischen Magazin "Economist" über die asiatische Finanzkrise 97/98 berichtet habe. Es gab da klare Parallelen. Ja, ich glaube es ist ein Problem, dass die Menschen sich nach innen wenden. Entweder sind sie arrogant und wollen nichts vom Rest der Welt wissen, oder sie sind einfach ignorant, oder beides. Das ist definitiv ein Problem. Die ganze Welt verändert sich und ist voll von neuen Gelegenheiten und Risiken. Es gibt viele schlaue und talentierte Menschen außerhalb Europas. Wir müssen gegenüber diesen Einflüssen von außen viel offener werden und wir müssen auch bescheidener werden.

Philippe Legrain ist ein in London ansässiger Ökonom, Journalist und Autor. In seinem aktuellsten Buch "Aftershock" befasst er sich mit den Nachwehen der Wirtschaftskrise. Legrain war auf Einladung des Bruno Kreisky Forums für internationalen Dialog in Wien.