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Europa muss schützen und braucht einen neuen Aufschwung

Von Corrado Pirzio Biroli

Gastkommentare
Corrado Pirzio Biroli war unter anderem Chef der EU-Delegation in den USA, EU-Botschafter in Österreich und bei der UNO in Wien und Kabinettschef des seinerzeitigen EU-Kommissars Franz Fischler.
© privat

Die Welt steht vor drei Herausforderungen: Sie muss die Folgen der Corona-Krise bewältigen, den Klimawandel in den Griff kriegen und die bevorstehende dritte industrielle Revolution meistern.


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Um die Souveränität der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten aufrechtzuerhalten und ihren Einfluss in der Welt zu stärken, sind auf EU-Ebene gleich mehrere politische Aufwertungen erforderlich. Dazu gehören:

- die Anpassung der Kartellpolitik an das digitale Zeitalter;

- eine Politik der staatlichen Beihilfen für den "Green New Deal";

- eine Industriepolitik, die "European Champions" begünstigt und hilft, strategische Unternehmen vor ausländischen Übernahmen zu schützen;

- eine Überprüfung der Maastricht-Kriterien, um den Widerspruch zwischen Sparpolitik, Wirtschaftswachstum und sozialem Zusammenhalt aufzulösen;

- eine Bankenunion, die durch eine gemeinsame Einlagensicherung vervollständigt wird;

- eine Vervollständigung der Europäischen Währungsunion durch einen europäischen Finanzminister, einen europäischen Währungsfonds und ein gemeinsames Budget für die Eurozone, mit dem Ziel einer makroökonomischen Stabilisierung und einer sozialen Konvergenz inklusive der dafür notwendigen Strukturreformen;

- eine strikte Überwachung der nationalen Budgets aller EU-Mitgliedstaaten;

- politische Anpassungen, die die Leistungsbilanzungleichgewichte innerhalb der EU in vernünftigen Grenzen halten;

- die Etablierung eines europäischen Finanzmarktes mit der Einführung von Eurobonds, die auf Gegenseitigkeit beruhen;

- eine Umwandlung des Euro in eine echte internationale Leitwährung mit einem eigenen internationalen Zahlungssystem; 

- EU-Budgetmittel entsprechend den politischen Erfordernissen (selbst eine Verdoppelung der EU-Haushaltsausgaben auf 2 Prozent des BIP wäre im Vergleich zu den nationalen Budgets mit durchschnittlich mehr als 45 Prozent des BIP marginal).

Eine Frage des gesunden Hausverstands

Diese Aufzählung mag schockieren, aber letztendlich ist jeder einzelne Punkt gesunder Hausverstand. Zum Beispiel würde eine gemeinsame Einlagensicherung (ohne Investmentbanking) sowohl die nördlichen Länder, die das finanzielle Risiko reduzieren wollen, als auch die südlichen Länder, die es teilen wollen, zufriedenstellen. Sie würde auch einen Bankenrun in einer Finanzkrise vermeiden und die Risikoposition der Banken gegenüber Staatsanleihen (das Souveränitätsrisiko der Landesbanken und der italienischen Banken) mindern. Sie würde außerdem allen europäischen Sparern die gleiche Behandlung und die freie Wahl ihrer Bank gewährleisten. Ebenso würden Eurobonds, die durch den europäischen Haushalt garantiert würden, die Sicherheit der Banken erhöhen, einen echten europäischen Finanzmarkt schaffen (der ohne risikofreie Wertpapiere nicht funktionieren kann) und dazu beitragen, Marktkredite zu "Triple AAA"-Konditionen ohne zusätzliche Kosten für die Mitgliedstaaten zu erlangen.

Den Befürchtungen der "sparsamen" Länder hinsichtlich eines moralischen Fehlverhaltens und einer zusätzlichen Finanzierungsverpflichtung gegenüber den "verschwenderischen" Ländern kann durch eine angemessene Überwachung und den Ausschluss von Garantien für eine Verschuldung, die bereits vor der Pandemie bestanden hat, gegengesteuert werden. Ohne nicht rückzahlbare Subventionen zur Finanzierung des Wiederaufbaus würden die am stärksten betroffenen und verschuldeten Mitgliedsstaaten ihre nationalen Haushalte nur ungern erneut einer EU-Prüfung unterziehen. Ihre Schulden würden tendenziell stärker wachsen und mit geringerer Wahrscheinlichkeit zurückgezahlt werden können.

Alle EU-Mitglieder ziehen enorme Vorteile aus einer gemeinsamen Anti-Trust-Politik, einer gemeinsamen Handelspolitik, gemeinsamen Standards, die praktisch zu Weltstandards für die meisten Handelspartner geworden sind, einer gemeinsamen Währung, die wettbewerbsbedingte Abwertungen innerhalb des Binnenmarkts gestoppt hat, und einer engen Kooperation in Energie-, Klima- und anderen politischen Fragen. Und trotzdem werden die Kosten-Nutzen-Bewertungen der Mitgliedschaft immer noch unsinnigerweise als Differenz zwischen den Zahlungen aus dem EU-Budget und den nationalen Beiträgen zu diesem Budget vorgenommen.

Wahre Kosten und Nutzen nicht gleichmäßig verteilt

Natürlich sind die wahren Kosten und Nutzen der Mitgliedschaft nicht gleichmäßig verteilt. Zum Beispiel hat der Euro als gemeinsame Währung den Deutschen, deren D-Mark immer stärker war als die Währungen der südlichen Mitgliedstaaten, ermöglicht, wettbewerbsfähiger zu werden, als wenn sie die D-Mark behalten hätten. Und obwohl die Strukturfonds die Einkommens- und Strukturunterschiede zwischen und innerhalb der Länder reduzieren sollen, kann echte Solidarität nicht nur auf Zuschüssen beruhen. Es braucht auch Steuern, die die Einkommensverteilung beeinflussen.

Die gegenwärtige Wirtschaftskrise und die sich abzeichnende dritte große industrielle Revolution können nicht ohne zusätzliche finanzielle Mittel erfolgreich bewältigt werden. Ausgabenkürzungen sind keine Option, und höhere nationale Beiträge (mit oder ohne Nachlässe) sind, selbst wenn sie durch eine Verfallsklausel nach 2024 auslaufen, nur schwer zu akzeptieren. Das gilt insbesondere für die "sparsamen" Länder, die zu den Hauptnutznießern des Binnenmarkts gehören.

Besteuerung als einziges Finanzierungsinstrument

Damit bleibt als Finanzierungsinstrument für das Gemeinschaftsbudget nur noch die Besteuerung. Aber diese Möglichkeit unterliegt dem Einstimmigkeitsprinzip. Bis es allenfalls zu einer Vertragsänderung kommt, ist, angesichts mangelnder alternativer Budgetquellen ein einstimmiger Beschluss über eine oder mehrere EU-Steuern zur Finanzierung des Wiederaufbaus oder anderer finanzieller EU-Verpflichtungen die einzige Option. Kann keine Einstimmigkeit erreicht werden, steht es nicht im Widerspruch zum Vertrag, wenn sich eine Vielzahl von Ländern auf die Einführung einer gemeinsamen Steuer einigt - vorausgesetzt, sie handeln in gemeinsamer Sorge und ohne Risiken für die Eurozone.

Jeder Staat könnte seinen nationalen Beitrag zum EU-Haushalt durch einen Anteil der Einnahmen aus einer solchen Steuer ersetzen, auch wenn eine EU-Steuer nicht oder noch nicht erhoben wird. Das würde bei den Bürgern zu einem größeren Verständnis, wie viel die EU wirklich kostet. und zu mehr Interesse an den Aufgaben der EU führen.

Wenn das System der nationalen Beiträge nicht aufgegeben wird, sollte das EU-Parlament seine frühere Drohung wahr machen und ein Veto gegen die neue mittelfristige Finanzierungsplanung einlegen.

Angesichts des dringlichsten und schwierigsten sozioökonomischen Wandels in der Geschichte, müssen Europas Staats- und Regierungschefs aufhören, die Problematik auf die lange Bank zu schieben. Sie müssen jetzt die Gelegenheit nutzen und die Gemeinschaftspolitiken in vollem Umfang ausschöpfen um die Kontrolle über die Zukunft ihrer Länder zurückzugewinnen, ein neues Narrativ zu entwickeln und sich für wirksamere Maßnahmen zum Schutz und Wohlstand ihrer Bürger einsetzen zu können. Auf diese Weise kann dem Schuldzuweisungsspiel populistischer Kräfte begegnet und das Vertrauen der Bevölkerung in die europäische Integration gestärkt werden.

Gemeinsame Außen-und Verteidigungspolitik

Der zurzeit cleverste Regierungschef Europas, Emmanuel Macron, sehnt sich nach einem "Europa, das schützt". Das war auch das Motto der österreichischen EU-Präsidentschaft und ist genau das, was unsere Bürger wollen. Bisher ist es der EU gelungen, maßgeblich dazu beizutragen, die kollektive Souveränität in Bereichen wie Ernährungssicherheit, freier Verkehr, Handel, Wettbewerb, Währung und Umwelt zu stärken. Nun muss es zusätzlich gelingen, dass die Staats- und Regierungschefs der EU den mehrheitlichen Wunsch ihrer Bürger nach einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik verwirklichen. Ohne eine solche bleiben die Bürger mit ihren unzulänglichen EU-Institutionen in einer globalisierten Welt ungeschützt.

Europas Staats- und Regierungschefs wären gut beraten, über den selbstverschuldeten Souveränitätsverlust nachzudenken, den ihre Länder als Folge zweier Weltkriege erlitten haben. Nun wird ihr Einfluss auf das Weltgeschehen weniger, und sie laufen Gefahr, in künftige Konflikte involviert zu werden, die sie sich nicht selbst ausgesucht haben.

Welchen Sinn hat es noch, Europas äußere Sicherheit weitgehend an die USA zu übertragen, deren Präsident sich weigert, sich an multilaterale Vereinbarungen zu halten, eine "America first"-Politik betreibt, in ständigem Konflikt mit Russland steht und mit China in einer "Thukydides-Falle" steckt? Die EU wagt es auch dann nicht Stellung zu nehmen, wenn das Weiße Haus, das von einer unberechenbaren, paranoiden Persönlichkeit geleitet wird, die Züge eines Irrenhauses von Ja-Sagern annimmt. Mir ist bewusst, dass es eine Tabuverletzung darstellt, so frei heraus zu sprechen. Das bedeutet auch nicht, eine strategische Partnerschaft mit den USA abzulehnen. Es bedeutet nur, die Freiheit zu haben, Partnerschaften auf der Grundlage von Parität, gegenseitigem Verständnis und Achtung aufzubauen.

Solange die Regel der qualifizierten Mehrheit nicht auf außenpolitische und Verteidigungsfragen ausgeweitet wird, wird es den EU-Mitgliedern an echter Souveränität und Einfluss in internationalen Angelegenheiten mangeln. Europas Bürger müssen sich solange zu Recht schutzlos fühlen.