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"Europa riskiert seine Seele"

Von Siobhán Geets

Politik

Caritas-Präsident Michael Landau über Zäune, die Angst der Menschen vor Fremden und die Zukunft der Europäischen Union.


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"Wiener Zeitung": Beim Thema Flüchtlinge sind viel Falschinformation und Hetze im Umlauf. Bekommen Sie viele Hassmails?

Michael Landau: Mails und Briefe weniger, aber ich werde auf der Straße angesprochen. Wenn man zuhört, die Sorgen ernst nimmt, zugibt, dass man auf manche Dinge auch keine Antwort hat und auf Fragen mit Fakten antwortet, gehen die Sorgen stark zurück. Menschen, die fürchten, dass jetzt Terroristen kommen, antworte ich, dass die sicher nicht in ein Boot steigen werden, mit dem Risiko zu ertrinken, und wochenlange Fußmärsche auf sich nehmen. Sie setzen sich eher mit einem gefälschten Pass in den Flieger. In der aktuellen Debatte wird viel Fehlinformation betrieben, vor allem in den sozialen Medien. Haltung, Information und Begegnung sind hier wichtig. Wo das gelingt, legen sich die Ängste.



Der wahre Kraftakt steht uns mit der Integration der Flüchtlinge wohl noch bevor.

Österreich wird im Bereich Bildung und Soziales vor einer Reihe von Herausforderungen bei der Integration stehen. Wenn wir das gut umsetzen, ergeben sich auch Chancen. Im Bereich Soziales wünsche ich mir, dass der Bund die Länder entlastet. Wir müssen heute dafür zu sorgen, dass aus der Quartierkrise von heute nicht die Integrationskrise von morgen wird. Wir müssen uns bei der Integration mehr anstrengen: Spracherwerb vom ersten Tag an, Integrationsangebote, Gesprächsmöglichkeiten, Nostrifikation von Abschlüssen, Arbeitsmarkt - all das sind Schlüsselthemen, um die Situation bestmöglich zu nutzen.

Was sagen Sie dazu, dass Innenministerin Johanna Mikl-Leitner eine Zaun-Debatte begonnen hat?

Wer vor Bomben flieht, lässt sich von Zäunen nicht aufhalten. Würden nun in Europa Land für Land Zäune errichtet, wäre das ein eklatantes Politikversagen.

Für Sie gibt es also keine Obergrenze bei der Aufnahme von Flüchtlingen? Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer droht, eigene Maßnahmen zu setzen, sollte es Kanzlerin Angela Merkel nicht gelingen, den Strom einzudämmen.

Deutschland und Österreich sind in einer vergleichbaren Situation. Unser Beitrag ist, was Asylantragszahlen pro Kopf angeht, nicht kleiner als der Deutsche. Klar ist: Auf Dauer können nicht einige wenige Länder die Aufgaben für ganz Europa übernehmen. Es führt kein Weg an einem Mehr an Solidarität vorbei. Ich erwarte mir von der österreichischen Regierung, dass sie entschieden Solidarität einfordert. Die jetzige Situation hat große Bedeutung für die Zukunft der EU. Wenn Land für Land wieder Grenzen hochzieht, dann ist das Europäische Projekt als Raum des Miteinanders infrage gestellt.

Haben Sie Angst vor einem Scheitern der Union?

Ich habe den Eindruck, dass auf Österreichs Bahnhöfen und Grenzen in den vergangenen Wochen Geschichte geschrieben wurde. Es gab ein gemeinsames Bemühen um Menschlichkeit. Die Frage lautet, wie diese Geschichte weitergeschrieben wird und wie sie ausgeht. Es hängt nicht nur von Österreich ab, sondern von London, Berlin, Paris, Warschau und Europa insgesamt.

Es wurde schon eine Asyl-Quote im Rat beschlossen. Von 160.000 Menschen wurden aber erst 86 verteilt. Die Lösung auf dem Papier wird also nicht umgesetzt. Wie soll man Druck ausüben?

Die Dinge werden viel zu zögerlich umgesetzt. Für die Aufgabe, vor der wir stehen, gibt es keine einfachen Lösungen. Hier ist jedes Land sowie die Staatengemeinschaft gefordert. Es sind viele Elemente wesentlich, zuallererst die Hilfe in den Herkunftsländern selbst: Bemühungen, den Krieg dort zu beenden und den Menschen in der Umgebung Schutz und Sicherheit zu bieten.

Sie sprechen von den großen Lagern in Jordanien.

Den Menschen in den großen Flüchtlingslagern wurde Hilfe versprochen, aber nicht eingelöst. Dort sind Mütter mit ihren Kindern, die keine Möglichkeit haben, die Schule zu besuchen. Monat für Monat wird das Essen gekürzt. Ich verstehe, dass die Menschen dann sagen, ihnen bleibt keine Alternative als sich auf den Weg zu machen. Es führt kein Weg an einer europäischen Solidarität vorbei: Wir brauchen vergleichbare Verfahren und Entscheidungsstandards sowie letztlich ein europäisches Asylsystem.

Die Chance, bleiben zu dürfen, hängt stark davon ab, in welchem Land der Asylantrag gestellt wird.

Es ist klar, dass die Menschen in das Land gehen, wo sie die größten Hoffnungen auf Anerkennung haben. Wichtig ist auch die Frage, wie wir einen sicheren Zugang zu Asyl schaffen können. Es ist klar, dass nicht jeder, der beantragt, Asyl erhalten wird, aber jeder hat das Recht auf ein faires Verfahren. Hier gab es immer wieder Instrumente - ich denke etwa an das Botschaftsverfahren, das bis 2004 existiert hat oder auch an die Möglichkeit des Resettlements, humanitärer Visa, der erweiterten Familienzusammenführung. Der Gedanke von Erstaufnahmestellen an den Rändern der EU, wo Menschen zuerst hineinkommen, könnte als gemeinsame Aufgabe ein Teil der Lösung sein. Aber nur dann, wenn das auch mit einem Verteilungssystem verbunden wird und mit einer abgesicherten Grundversorgung.

Sehen Sie Fortschritte bei der Unterbringung der Flüchtlinge?

Ich bin dankbar, dass mehr Gemeinden ihre Aufgabe wahrnehmen, und beeindruckt vom zivilgesellschaftlichen Engagement. Ich erwarte, dass das Politik-Hickhack zwischen Bund und Ländern ein Ende hat. Es braucht einen Schulterschluss zwischen Bund, Ländern, Gemeinden, Zivilgesellschaft. Es freut uns, dass immer mehr Teile der Wirtschaft auch die Chancen sehen. Uns als Hilfsorganisation geht es zuerst um die Menschen, aber vielleicht sollten wir uns von diesem Zugang mehr inspirieren lassen.

Was sagen Sie als Kirchenvertreter zu einer Europäischen Volkspartei, die sich über das Christentum definiert und gleichzeitig Mitglieder wie Ungarns Viktor Orbán hat?

Unsere Position als Caritas ist allen politischen Parteien gegenüber gleich. Wir erinnern daran, dass zu den europäischen Werten der Schutz Bedürftiger und Solidarität dazugehören. Europa riskiert nicht seine Werte, wenn es Menschen auf der Flucht aufnimmt, es riskiert die Seele seiner Existenz, wenn es aufhört, sich um die zu kümmern, die hier bei uns Schutz suchen.

Zur Person

DDr. Michael Landau (55),

ist seit 1995 Caritas Direktor in Wien und seit 2013 Präsident der Caritas Österreich. Er promovierte in Biochemie und trat erst während seines Studiums in die katholische Kirche ein. Anschließend studierte Landau Philosophie und Theologie, 1992 wurde er in Rom zum Priester geweiht.